Splitter und Balken

Gedanken zur Woche

Gemeinfrei via unsplash.com/Antonio Janeski

Splitter und Balken
Gedanken zur Woche mit Pastor Matthias Viertel
15.05.2020 - 06:35
03.01.2020
Matthias Viertel
Über die Sendung

Verschwörungstheorien gab es schon im Mittelalter. Ein theologisches Alibi dürfen sie nicht haben. Matthias Viertel in den Gedanken zur Woche im Deutschlandfunk.

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Verschwörungstheorien gab es schon im 14. Jahrhundert. In Europa wütete damals die Pest, die Menschen steckten sich gegenseitig an und niemand kannte ein Gegenmittel gegen das Tod bringende Fieber. In dieser Ohnmacht suchten viele nach einem Grund für das Übel. Und die vermeintlich Schuldigen waren schnell ausgemacht. Es waren diejenigen, die schon immer am Rande standen: Außenseiter, Fremde, Andersdenkende. Die Juden – so hieß es damals – hätten die Brunnen vergiftet. Und von diesem in die Welt gesetzten Gerücht aus war es nur ein kleiner Schritt hin zu den Pogromen, bei denen ganze Stadtteile abgebrannt, unzählige jüdische Mitbürger ermordet wurden.

Menschen sind, wenn sie von Angst getrieben werden, zu schrecklichen Dingen imstande. Angst verführt schnell dazu, nach Schuldigen für das Unerklärliche zu suchen. Als würde man damit das Unfassbare in den Griff bekommen. Wer auf einen Schuldigen zeigt, bildet sich ein, der Krise nicht mehr hilflos ausgeliefert zu sein. Das war zu Zeiten der Pest so, und dieses Schema greift auch heute wieder.

Schneller als das Virus selbst verbreiten sich Verschwörungstheorien zur Corona-Pandemie. Auf Fakten wird dabei keine Rücksicht genommen, stattdessen gibt es wohlfeile Fantasie, die Unwissenheit und Desorientierung für eigene Zwecke ausnutzt. Wieder zeigen Verschwörungstheoretiker mit dem Finger auf Andere, auf die man ohnehin gern alle Schuld ablädt. Eine Gruppe wird dabei immer öfter benannt: die Juden. Diesmal nicht als Brunnenvergifter, sondern als Weltverschwörer, als Profiteure der Weltwirtschaft.

Felix Klein, Antisemitismusbeauftragter der Bundesregierung, hat die jüdischen Mitbürger sogar als Hauptziel der Verschwörungen rund um die Corona-Krise ausgemacht. Und vom Verfassungsschutz kommen Hinweise, in welcher Weise solche antisemitischen Gerüchte nicht nur von Rechtsradikalen, sondern auch von Islamisten aufgegriffen werden.

Nun hat sogar eine Gruppe von katholischen Bischöfen und Kardinälen einen Aufruf veröffentlicht, in dem sie auf eine Verschwörung hinweisen. Sie behaupten: Es soll Kräfte geben, „die daran interessiert sind, in der Bevölkerung Panik zu erzeugen“. Die Maßnahmen gegen das Virus sollen der „Auftakt zur Schaffung einer Weltregierung“ sein (1). Und das alles unter der Überschrift „Die Wahrheit wird euch frei machen“, ein Jesuswort aus dem Johannesevangelium.

Aber es macht nicht frei, bei anderen Menschen eine Schuld zu suchen. Das zeigt uns die Geschichte sehr deutlich. Solche Erklärungen schüren selbst Panik. Gut, dass sich die katholische Bischofskonferenz von diesem inoffiziellen Papier distanziert hat. Gerade weil dieser Aufruf von Vertretern der Kirche ausgegangen ist, muss ihm auch von kirchlicher Seite widersprochen werden. Es geht nicht zusammen, dass solche Verschwörungstheorien ein theologisches Alibi erhalten.

Mir drängt sich gegen solchen Absolutheitsanspruch ein Bild aus dem Evangelium auf: „Was siehst du den Splitter im Auge deines Bruders und bemerkst nicht den Balken im eigenen Auge.“ (Mt 7,1-3) Jesus zeigt niemals mit dem Finger auf andere, vielmehr reicht er ihnen die Hand. Wortwörtlich geht das aus hygienischen Gründen im Moment zwar nicht, aber es ist klar, was Jesus damit meint:

Nach Schuldigen oder Verschwörern zu suchen macht weder frei noch löst es Probleme. Stattdessen könnte ich mich fragen: Wer braucht in dieser angstbesetzten Zeit meine Unterstützung? Was kann ich tun, um Risikogruppen zu schützen? Wo trage ich selbst Schuld, weil ich etwas unterlassen habe? Allzu gern berufen sich Verschwörungstheoretiker auf Freiheit und Selbstbestimmung. Das sind hohe Güter! Aber es gibt kein Prinzip und keinen Wert, für den Jesus je auch nur ein Leben riskiert hätte – außer seinem eigenen. Das verbietet jede Allianz mit denen, die Menschenleben mit leichtfertiger Rechthaberei aufs Spiel setzen.

 

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Es gilt das gesprochene Wort.

 

(1) https://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/corona-verschwoerungstheorien-in-der-katholischen-kirche-die-sache-mit-der-wahrheit-a-db491df7-af94-45ea-9d98-02a9007eb87c

 

 

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03.01.2020
Matthias Viertel