Zahlenmystik militärisch

Gedanken zur Woche
Zahlenmystik militärisch
13.11.2020 - 06:35
12.11.2020
Silke Niemeyer
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Die Gedanken zur Woche im DLF.

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Nicht nur die Mathematik, auch die Religion hat es mit Zahlen. Vom frühmittelalterlichen Theologen Isidor von Sevilla ist überliefert: „Die Bedeutung der Zahlen ist nicht zu verachten. An vielen Stellen in den heiligen Schriften wird nämlich deutlich, welch großes Geheimnis sie enthalten.“ (1) Das ist wahr gesprochen, und man kann diesen Satz über die Zahlenmystik in der Religion auch auf die Politik anwenden. In ihr spielt die Zahl Zwei eine große Rolle. In den Kommentaren über die Abwahl Donald Trumps wird in dieser Woche mahnend an die „Zwei Prozent“ erinnert. Gemeint ist die Forderung der USA, dass alle Mitgliedsstaaten der NATO zwei Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für Rüstung aufwenden müssen.

 

Woher kommt diese Zahl? Isidor von Sevilla würde wohl antworten: An vielen Stellen in der Politik wird deutlich, welch großes Geheimnis die Zahlen enthalten. Die Zwei wurde beim NATO-Gipfel 2002 erfunden, als man die baltischen Staaten, Rumänien, Bulgarien und die Slowakei einlud mitzumachen im Bündnis. Auf der Rückseite der Einladungskarte stand: Ihr müsst aber zwei Prozent eures BIP mitbringen, wenn ihr mit am Tisch sitzen wollt. Und weil es gerecht zugehen sollte, hieß es, dass auch die übrigen Nato-Staaten diese Marke anstreben würden (2).

 

Geld wurde ja auch gebraucht. Die NATO hatte, mit den USA vorneweg, drei Jahre zuvor ohne das vom Völkerrecht geforderte Mandat der UN (3) Krieg gegen Serbien geführt. Und die USA waren ein Jahr zuvor in Afghanistan einmarschiert und hatten sich quasi schon die Stiefel angezogen, um in ein paar Monaten in den Irak einzumarschieren. Das kostete. Warum am Ende zwei Prozent für jedes NATO-Mitglied? Die Journalistin Franziska Augstein erklärt es so: „Wie man auf zwei Prozent kam, ist ein Rätsel. Die Ziffer Zwei scheint etwas Zauberhaftes an sich zu haben (...). Womöglich wurde das, wie man so sagt, Pi mal Daumen entschieden. Eins, Zwei, Drei? Wir nehmen das gute Mittelmaß: die Zwei.“ (4) Welch großes Geheimnis! Nicht nur die Religion, auch die Politik atmet manchmal das Irrationale.

 

Rational ist aber die Rechnung, die sich dem anschließt: Deutschland müsste 70 bis 80 Milliarden Euro jährlich für Aufrüstung ausgeben, horrend mehr als die aktuellen 50 Milliarden (5). Die Deutschen, deren Parlament diese Zahl nie beschlossen hat, sind ziemlich zähflüssig darin, die Mittel flüssig zu machen. Corona und der Einbruch der Wirtschaft hilft gerade ein bisschen, um der zauberhaften Zwei näher zu kommen, weil ja die Rüstungsausgaben nicht einbrechen.

 

Demnächst ist im Weißen Haus derjenige weg, der bei jeder Gelegenheit „Zwei Prozent“ posaunt hat. Er war dabei so unsympathisch wie das Kind, dass sich im Supermarkt vor der Kasse brüllend auf die Erde wirft, weil es will, dass der Lutscher gekauft wird. Nun aber ist der aufrechte Demokrat Joe Biden da, und Politiker und Kommentare sprechen dafür – um kurz im Bild zu bleiben – den Lutscher dann für ihn zu kaufen. Aber man muss das Bild gleich verlassen, weil es um Bitteres wie Bomben geht und nicht um Süßes. Amerika darf „zu Recht stärkere eigene Anstrengung“ von Deutschland erwarten, heißt es. (6)

 

Als Christin wünsche ich mir das anders. Ich wünsche mir, dass jetzt nach der Wahl in den USA nicht die Anstrengungen für Aufrüstung, sondern die Anstrengungen für Abrüstungsverhandlungen verstärkt werden. Nicht weil ich mit der Bergpredigt Politik gemacht haben will; dazu hat Jesus sie nicht gedacht. Nicht weil ich finde, dass Christen Pazifisten sein müssen; das müssen sie nicht. Aber an der prophetischen Vision, die die Zukunft in der Produktion von Pflugscharen sieht und nicht im Schmieden von Schwertern (Jesaja 2,4, Micha 4,3), hänge ich schon. Und ich glaube, dass unsere Politiker Rückhalt brauchen, damit sie nicht der Mystik der Militärs folgen und den mächtigen Interessen derer, die ihr Geschäft mit Waffen machen. Abschreckung, Aufrüstung und Verdoppelung der Rüstungsausgaben sind nämlich keine Friedensvision; sie sind eine Niederlage auf dem Weg zum Frieden.

 

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Es gilt das gesprochene Wort.

 

Literaturangaben dieser Sendung:

  1. https://de.wikipedia.org/wiki/Zahlensymbolik
  2. https://www.tagesschau.de/inland/verteidigungsausgaben-103.html
  3. https://www.youtube.com/watch?v=nrv-AzVafSs, https://www.deutschlandfunk.de/vor-20-jahren-begann-der-kosovo-krieg-bomben-gegen-belgrad.724.de.html?dram:article_id=444365
  4. https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/augsteins-welt-zwei-prozent-1.4998594
  5. https://www.tagesschau.de/inland/militaerausgaben-deutschland-nato-101.html#
  6. https://www.spiegel.de/politik/deutschland/usa-angela-merkel-gratuliert-joe-biden-und-kamala-harris-zum-wahlsieg-a-4e24c318-4d1e-424a-97a9-5795677233ae

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12.11.2020
Silke Niemeyer