ÜBER-SETZEN

Morgenandacht
ÜBER-SETZEN
von Görlitz nach Reczyn
05.05.2015 - 06:35
03.04.2015
Pfarrerin i.R. Gabriele Herbst

Ich stehe auf der Brücke, die an der Kirche St. Peter in Görlitz nach Zgorzelec in Polen führt. Nach dem letzten Hochwasser ist sie wieder begehbar und bietet sicheren Halt über die Neiße, die frühlingshaft dahinfließt.

 

Über diesen Fluss floh vor 70 Jahren, am Ende des 2. Weltkrieges, meine Familie : meine Eltern, Großeltern, drei Schwestern, zwei Tanten – und meine Urgroßmutter Auguste. Sie liefen aus dem damaligen Niederschlesien ins Irgendwo, dorthin, wo sich Platz bieten würde zum Leben. Die letzten Kriegswochen hatten sie auf dem großen Gut meiner Urgroßmutter in Reutnitz zugebracht, oft in Scheunen versteckt. Meine Mutter entkam in letzter Minute der Gewehrkugel eines betrunkenen Soldaten. Alle waren vom Krieg gezeichnet, den sie immer gehasst hatten, weil er nur Tod über die Welt brachte, Angst und Heimatlosigkeit, von der sie nun selbst betroffen waren.

 

Gefasst soll meine Urgroßmutter Auguste vom Hof gegangen sein, den nun aus Litauen vertriebene polnische Flüchtlinge bezogen. Sie war eine fromme Christin, die, als sie den Schlüssel zum Haus abgab, gesagt haben soll: „Gott hat es gegeben, Gott hat es genommen. Sein Name sei gelobt.“

 

Ich glaube, dass nicht Gott, sondern Hitler und der Krieg meiner Urgroßmutter fast alles wegnahmen. Aber ich habe schon als Kind bewundert, wie tapfer sie und meine Familie große Verluste hingenommen hat. Schuld, sagte mein Vater zu mir, haben Hitler und alle Deutschen, die mitmachten, wegsahen, schwiegen.

 

Auf der Brücke in Görlitz sehe ich meine Familie von damals vor mir. Mein Vater hat als Pfarrer bis zum Schluss unzählige Menschen beerdigt. Er ist klapperdürr und weiß nicht, wo man seine Großfamilie aufnehmen wird. Aber man wird sie aufnehmen. Ungern, skeptisch, aber auch liebevoll. Niemand wird sie jagen, wie viele Flüchtlinge heute in Deutschland gejagt werden. Niemand wird das Haus abbrennen, das ihnen in der Oberlausitz zugewiesen wird. Man wird mit ihnen Lebensnotwendiges teilen: Matratzen, Brot und Zucker. Und es wird Raum geben, ein weiteres Kind, mich, zur Welt zu bringen.

 

Heute, 70 Jahre nach dem grausamen Völkermorden, bin ich auf der Brücke zwischen Deutschland und Polen dankbar, dass in Europa alte Feindbilder schwinden. Es gibt noch viel zu tun. Aber manches Wunderbare ist gewachsen. Zum Beispiel in Reutnitz, das seit Kriegsende Reczyn heisst. Dort wohnen im ehemaligen Gut meiner Urgroßeltern vier polnische Familien. Zu Dominica, einer 84 – Jährigen und ihren Töchtern hält meine Familie seit 10 Jahren guten Kontakt. Wann immer wir Reczyn besuchen, werden wir mit einem freundlichen dzień dobry begrüßt. Selbst wenn wir unangemeldet kommen, wie an diesem Osterfest. Wir sitzen im Wohnzimmer, in dem der grüne Kachelofen meiner Urgroßmutter noch fröhlich vor sich hin lodert. Dominica läuft schwerfällig zum Kühlschrank und schneidet vom Osterschinken die Hälfte für uns ab. Dann greift sie in den gesegneten Osterkorb mit gefärbten Eiern. Schaut auf zur Ikone mit der Madonna von Tschenstochau , schlägt ein Kreuz und legt uns die Eier in den Schoß. Wir treten ans Fenster und blicken zur Hauswand gegenüber. Ob er noch da ist, der alte Weinstock, gepflanzt von meiner frommen Urgroßmutter. Ja, er wird auch in diesem Jahr treiben. Dobrze, gut, lacht Dominika und nimmt mich in die Arme. Nun tritt Mirka, die Tochter ins Zimmer. Wir stellen uns in einen Kreis und sprechen ein Gebet. Dominika blickt mich liebevoll an, als ich ihr ein Kreuz auf die Stirn zeichne. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass meine Urgroßmutter Auguste in ihr versteckt ist.

03.04.2015
Pfarrerin i.R. Gabriele Herbst