Auf Sicht fahren

Morgenandacht
Auf Sicht fahren
28.04.2020 - 06:35
30.01.2020
Thomas Dörken-Kucharz
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„Auf Sicht fahren!“. Kaum eine Redewendung habe ich in den vergangenen Wochen öfter gehört als diese. In den Nachrichten, bei den Virenexperten, in Videokonferenzen und selbst im Freundeskreis. Wir fahren auf Sicht, weiter als eine oder zwei Wochen können wir nicht schauen, man weiß nicht, was und wie es kommen wird; niemand, wie die Politik dann entscheidet. Und auch die Politik selbst sagt: Wir fahren auf Sicht.

Einerseits habe ich das verstanden. Das, was man will und plant, geht nicht, und das „auf Sicht fahren“ reicht als Begründung. Dahinter steckt das unberechenbare Virus. Schon klar. Andererseits verstand ich erst einmal gar nicht. Was heißt denn „auf Sicht fahren“ eigentlich?

Meine Führerscheinprüfung ist ja schon eine ganze Weile her, aber eines zumindest weiß ich noch: Als Führer eines Kraftfahrzeuges, ja selbst eines Fahrrades, muss ich doch immer auf Sicht fahren. Etwas anderes ist laut Straßenverkehrsordnung gar nicht erlaubt. Auf Sicht fahren ist im Straßenverkehr also eigentlich der Normalzustand. Und wenn die Straße eng ist und die Sicht schlecht, muss ich sogar auf halbe Sicht fahren. Wenn also Politik und Unternehmen sonst nicht auf Sicht fahren, was machen die dann: Augen zu und durch?

Irgendwie stimmt der Vergleich mit dem Straßenverkehr nicht. Der Schiffsverkehr ist aber auch nicht gemeint. Denn da ist auf Sicht fahren, jedenfalls bei schlechtem Wetter, eine ganz schlechte Idee. Je schwerer die See, je stärker der Sturm und je dichter der Nebel, um so mehr muss man sich dann auf Radarortung, GPS und andere technische Systeme verlassen können, sonst ist das Navigieren nicht verantwortlich möglich. Auf Sicht fahren geht dann gar nicht.

Sinn ergibt der Vergleich beim Schienenverkehr. Da wird in der Regel signalgesteuert und eben nicht auf Sicht gefahren. Aber beim Ausfall von Signalen oder bei extremen Wetterlagen wird dann radikal umgestellt und: „auf Sicht gefahren“. Ein Schienenfahrzeug kann ja auch nicht ausweichen. Es muss im Notfall rechtzeitig halten können. Das heißt wirklich „auf Sicht fahren“, maximal zulässige Geschwindigkeit sind 40 km/h. „Auf Sicht fahren“ soll eine mögliche, eine größere Katastrophe als ausgefallene Signalanlagen und umgestürzte Bäume verhindern. Da werden Fahrpläne und Reiseziele ganz schnell obsolet. Und insofern stimmt die Analogie zu Politik und Unternehmensentscheidungen.

Auf Sicht fahren in der Corona-Krise, das heißt: Sofort, also in jedem Fall noch rechtzeitig, reagieren zu können. Erkenntnisse sammeln, aus Fehlern lernen, sich auch selbst korrigieren können, transparent entscheiden und entschieden handeln. Diese Krise lässt sich überstehen, wenn alle enger zusammenrücken - und natürlich dabei Abstand halten. Einfach ist das nicht.

Auf Sicht fahren, auch in der Corona-Krise – das lässt Visionen und Ein-sichten nicht platzen, sondern gibt Gelegenheit, sie genauer anzuschauen. Manche Ziele, so zeigt sich in der Krise, gilt es zu überdenken. Manches, was zuvor vernachlässigt wurde, ist plötzlich systemrelevant. Das gilt es zu bewahren, die richtigen Entscheidungen zu treffen und neue Visionen zu entwickeln.

Eine Ein-sicht meines christlichen Glaubens ist: Gott lässt sich durch unsere Katastrophen nicht aus dem Konzept bringen. Ob und inwiefern sie vielleicht sogar Teil seines Konzeptes sind, vermag ich nicht zu beurteilen. Gott fährt dabei – im Bild gesprochen - aber immer auf Sicht. Denn „der Mensch sieht, was vor Augen ist, Gott aber schaut das Herz an.“ (1) Heißt es im Alten Testament. Gott schaut nicht nur zu, er blickt durch! Und mit diesem Durch-Blick kann er gut auf Sicht fahren. Gott macht die Augen nicht zu, er schaut nicht weg. Sein Blick ist gütig da. Er sieht und kennt und begleitet uns; bei all unseren Fahrten, ob auf Sicht oder signalgesteuert, mit oder ohne Corona.

 

(1) 1. Samuel 16,7

 

Es gilt das gesprochene Wort.

30.01.2020
Thomas Dörken-Kucharz