Bildung ist Zukunft

Morgenandacht
Bildung ist Zukunft
11.11.2019 - 06:35
18.07.2019
Claudia Aue
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Ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll. Zu traurig ist Kerems Geschichte. Zu traurig sind auch die immer neuen fremdenfeindlichen Übergriffe hier, in meinem Land. Aber der 19-Jährige erzählt freundlich: Über die Flucht vom Jemen über Jordanien, die Türkei und Griechenland – die gefährliche Fahrt über einen See, dann Mazedonien, Ungarn und ein so genanntes „closed Camp“ in der Slowakei. Dann kam Kerem mit seinen beiden Geschwistern über Salzburg nach Deutschland – schließlich hier in den Norden, an die Küste.

 

Hier lebt er jetzt in einer kleinen Wohnung mit seinen Geschwistern. Es hat sich gut gefügt. Aber Kerem ist überzeugt: ohne Bildung gibt es für ihn hier, in Deutschland, keine Zukunft. Das Motto „Bildung ist Zukunft“ ist für ihn eine tägliche Überschrift. „Wir müssen uns entwickeln“, sagt er, eher sachlich. Und dann wird seine Stimme weich. „Aber ohne Bjorn hätte ich das nicht geschafft.“ Bjorn oder eher nordisch Bjö(öö)rn, ist Kerems deutscher Freund. Er hat den Gleichaltrigen eher zufällig über seinen Vormund kennen gelernt. Der Vormund hatte nicht so viel Zeit, aber Björn wurde zu einem Freund. „Durch ihn habe ich einen Riesensprung gemacht“, sagt Kerem. Björn hat mit ihm Hausaufgaben gemacht und Deutsch gelernt. Im nächsten Jahr macht Kerem seinen Realschulabschluss, dann will er Pilot werden. „Manchmal nervt es mich, aber er korrigiert jeden Fehler und ich muss immer ganz viel lesen – den Kleinen Prinzen und so“.

 

So kann es gehen, denke ich. So kann Integration aussehen. Durch diese deutsch-jemenitische Freundschaft ist etwas Neues entstanden. Und woher nimmt Kerem die Kraft – wie kann er so mutig gewesen sein und es immer noch sein. Auch hier bei uns, in einem vermeintlich sicheren Land, gibt es immer wieder fremdenfeindliche Anschläge. Ich frage Kerem nach seinem Glauben. „Ich bin Muslim, aber jeder hat seine Freiheit – das Wichtigste ist, dass keiner sich schlägt“, sagt er und fügt hinzu „ich mache in meinem Glauben so das, was man eben machen muss“.

 

Ich traue mich nicht, nachzufragen, was das heißt. Und überlege, was das für mich als Christin heißt: „was ich eben so machen muss“. Und ich denke: Björn hat das ganz schnörkellos vorgemacht. Er hat einfach gehandelt: Er spricht mit Kerem Deutsch, macht gemeinsam mit ihm Hausaufgaben – holt vielleicht Hilfe, wo er nicht weiter weiß: bei Behörden oder wenn sein jemenitischer Freund zum Arzt muss.

 

Ich glaube, wir brauchen solche Geschichten mehr denn je. Mord und Totschlag ist alle Zeit bei uns, doch das Wunder Nächstenliebe muss immer neu entstehen. Gewalt ist seit Menschengedenken bei uns. Es gibt mehr arme Menschen als reiche. Menschen hungern, Kinder sterben. Anschläge, Folter, Krieg – Gewalt hat viele Gesichter.

 

Schon die biblische Geschichte vom barmherzigen Samariter erzählt davon. Von diesem Überfall auf dem Weg zwischen Jerusalem und Jericho, einer wird misshandelt, beraubt; halbtot lässt man ihn liegen. Und da passiert das Wunder der Nächstenliebe: Ein Fremder, der Samariter, geht hin und hilft ihm. Der Barmherzige lässt sich unterbrechen auf seiner Reise. Er ist ganz da, geistesgegenwärtig für die Situation. Er tut das Nötige: Wunden versorgen, zur Herberge bringen. Dort finanziert er die weitere Pflege, verspricht Erstattung. Das ist planende, vorausschauende, vorsorgende Liebe.

 

Ganz ähnlich erkenne ich das bei Björn und Kerem. Kulturelle und religiöse Unterschiede haben sie hintenangestellt. Sie haben Freundschaft geschlossen. Nach dem Gespräch mit Kerem war mir klar: Das alles gehört zum Gebot ‚Du sollst deinen Nächsten lieben‘ – anderen helfen, sich zu bilden, zu lernen, die Welt zu verstehen. Auch der Aufbau eines Rettungssystems, auch Steuern für Schulen und Sozialarbeiter und Integrationsmaßnahmen. Nächstenliebe besorgt noch keine Erlösung, noch keinen Himmel auf Erden, aber ein erträglicheres Erdendasein. Und ab und zu kann ein Stückchen Himmel auf Erden aufblitzen.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

18.07.2019
Claudia Aue