Von der jüdisch-christlichen Tradition ist in letzter Zeit häufig die Rede. Damit wird eine wichtige Identität Deutschlands und Europas markiert. Meist geschieht das zur Abgrenzung von anderen, in der Regel gegenüber Muslimen.
Es lohnt, diese jüdisch-christliche Tradition genauer zu betrachten. Zweifellos haben Juden und Christen hierzulande eine lange gemeinsame Geschichte – doch keine eines gleichberechtigten Miteinanders. Die meiste Zeit war es eine Geschichte von Unterdrückung und Verfolgung der Juden durch die christliche Mehrheit. Über viele Jahrhunderte gab es immer wieder Ausschreitungen und Gewaltexzesse von Christen gegenüber der jüdischen Minderheit: Pogrome, Verfolgung und Vertreibung. Auch in nicht so gewalttätigen Zeiten wurden Juden oft diskriminiert und rechtlich schlechter gestellt. Diese jahrhundertelange Unterdrückungsgeschichte gipfelte vor achtzig Jahren in der Shoah, in dem millionenfachen Mord der Nationalsozialisten an Europas Juden. Mir fällt es schwer, angesichts dieser Geschichte unbefangen von der jüdisch-christlichen Tradition des Abendlandes zu sprechen. Unmöglich, sich heute ausgerechnet auf diese gebrochene Geschichte zu berufen, um sich von Muslimen abzugrenzen.
Doch womöglich lässt sich gerade für heute aus dieser Geschichte lernen. Eine neue Annäherung zwischen Christen und Juden gab es erst nach dem Ende des Nationalsozialismus. Aus der entsetzten Erkenntnis, welche Schuld auch die Kirche auf sich geladen hatte, wurde Umkehr und ein neuer Anfang. Vorsichtig suchen jüdische und christliche Theologen seither das Gespräch miteinander. Gemeinden laden sich gegenseitig ein, zu gemeinsamen Feiern und öffentlichen Aktionen. Dieser "jüdisch-christliche Dialog" ist noch immer eine junge Tradition. Und häufig markiert er eher offene Wunden als unbefangene Gemeinschaft. Ja, es gibt viel Gemeinsames zu entdecken, vor allem in den biblischen Wurzeln. Doch es braucht lange Zeit, umzudenken und eingefahrene Wege zu verlassen.
1980 fasste zum Beispiel die evangelische Kirche im Rheinland einen wegweisenden theologischen Beschluss "Zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden" (1). Darin wird ganz klar anerkannt: Jüdinnen und Juden brauchen das Christentum nicht zum Heil. Damit brachen Christen mit ihrem alten Selbstverständnis, ihr Glaube sei der einzige Weg zu Gott. Der über Jahrhunderte gepflegte theologische Irrtum, als habe Gott seinem Volk Israel die Treue aufgekündigt, wurde endlich aufgegeben. So heißt es in den Grundartikeln der Kirchenordnung heute: Die Kirche "bezeugt die Treue Gottes, der an der Erwählung seines Volkes Israel festhält. Mit Israel hofft sie auf einen neuen Himmel und eine neue Erde."
Dass die Kirche die jüdische Religion nach so langer Zeit der Abwertung als gleichwertigen und vollkommenen Zugang zu Gott anerkennt, war ein erster großer Schritt; viele andere folgten (2).
Jetzt haben orthodoxe Rabbiner aus Amerika, Israel und Europa erklärt, dass sich mit der Anerkennung seitens der Kirche eine neue Situation ergeben hat (3). Sie stellen nun ihrerseits fest: "Das Christentum ist (…) ein göttlich gewolltes Geschenk an die Völker." Da Juden und Christen viel mehr Gemeinsames als Trennendes haben, sollten sie auch gemeinsam eine aktive Rolle in der Welt übernehmen.
Das sind von beiden Seiten Worte der Anerkennung und Wertschätzung. Wichtige Schritte auf dem Weg des Dialogs. Eine neue Wahrnehmung der anderen Religion, ein anderes Selbstbild. Vielleicht entsteht so ja wirklich eine neue, andere jüdisch-christliche Tradition. Die aber eignet sich dann sicher nicht zur Abwehr gegenüber anderen. Doch sie kann Mut machen, auch z.B. mit Muslimen den Weg eines respektvollen Dialogs zu gehen.
1) http://www.ekir.de/www/downloads/ekir2005sonderdruck_christen_juden.pdf
2) http://www.vatican.va/archive/hist_councils/ii_vatican_council/documents/vat-ii_decl_19651028_nostra-aetate_ge.html
http://www.compass-infodienst.de/Hans_Hermann_Henrix__Der_christlich-juedische_Dialog_aus_katholischer_Sicht_-_Er.10518.0.html
3) http://www.jewiki.net/wiki/Orthodox_Rabbinic_Statement_on_Christianity