Der adventliche Mensch

Morgenandacht
Der adventliche Mensch
24.11.2020 - 06:35
20.11.2020
Matthias Viertel
Sendung zum Nachhören

Die Sendung zum nachlesen: 

Es ist keine Postkarte von der Art, die mit einem schönen Bild versehen ist und die man als Gruß aus dem Urlaub verschickt. Sondern eine mit einem Spruch darauf. Im Drehständer vor dem Zeitschriftenladen am Bahnhof stehen eine Menge dieser Karten. Und wenn der Zug wieder mal Verspätung hat, lese ich diese Sinnsprüche ganz gern. Sie wirken oft wie komprimierte Ratgeber.

Auf dieser nun prangt in dicken Lettern die Aussage: „Meine Meinung steht fest, versuche nicht, sie durch Argumente zu beeinflussen!“ Da muss ich schmunzeln. Argumente scheinen gefährlich zu sein. Sie dienen ja nicht nur der eigenen Bestätigung, sondern auch dazu, andere zu überzeugen. Ohne meckern, ohne Gebrüll, ohne Gewalt die Argumente sprechen lassen. So wie es erwachsene und aufgeklärte Menschen eben machen. Jedenfalls dann, wenn sie miteinander ins Gespräch kommen wollen. Und sich nicht nach dieser Postkarte richten.

Auf der anderen Seite beobachte ich genau das Gegenteil: Da kann ich argumentieren, wie ich will, und doch lassen sich die wenigsten anderen durch meine Beweisführung überzeugen. Sie wollen gar keine Argumente hören, weil ihre Meinung schon feststeht. Möglicherweise geht es mir selbst nicht anders, es ist schließlich nicht schön, von anderen belehrt zu werden.

Tatsächlich ist es so, dass Argumente nur bedingt Einfluss auf die Meinungsbildung haben. Zeitungen und andere Medien argumentieren zwar, aber gleichzeitig wähle ich die Zeitung gerade danach aus, ob sie in etwa meiner Überzeugung entspricht. Medien, die nicht die eigene Meinung widerspiegeln, werden meistens von vornherein aussortiert. Argumente, die nicht in das eigene Raster passen, werden nicht zugelassen. „Meine Meinung steht fest, versuche nicht, sie durch Argumente zu beeinflussen“ – das ist nicht zum Schmunzeln, sondern spiegelt tatsächlich eine weit verbreitete Haltung. Und wenn Argumente nicht gelten sollen, obwohl sie ganz offensichtlich sind, wird eben von „alternativen Fakten“ gesprochen. Das ist dann die direkte Konsequenz aus der Haltung: Meine Meinung steht fest, versuche nicht, sie durch Argumente zu beeinflussen.

Auch in der Religion ist diese Haltung nicht unbekannt. Von Standhaftigkeit ist dann die Rede, von der Stärke des Glaubens. Zweifel gelten dabei als unwillkommene Versuchungen, und Frömmigkeit wird geradezu definiert als das zweifelsfreie und unbedingte Festhalten an den eigenen Überzeugungen.

In meinem christlichen Glauben spielt der Zweifel aber von vornherein eine besondere Rolle. Der Zweifel ist keine Krise des Glaubens, sondern eine Kraftquelle, die für ständiges Wachstum sorgt. Keine Bedrohung, die von außen kommt, sondern Ausdruck einer inneren Haltung. Dabei ist es wichtig, Argumente wahrzunehmen, sie an sich heranzulassen. Das geht nur wenn ich bereit bin, die eigene Einstellung auch selbst immer wieder in Frage zu stellen.

Genau das meint der Advent: Mach es dir nicht zu leicht, richte dich in deinen Gedanken nicht gemütlich ein. Denn nur wer auch unbequeme Gedanken an sich heranlässt, macht sich wirklich auf den Weg. Mit jeder Kerze am Adventskranz kommt mehr Licht in das Leben und verdrängt erst allmählich die Ungewissheit. Der Advent ist die Zeit des Zweifelns, in der Argumente Konjunktur haben.

Mit dem kommenden Sonntag beginnt der Advent. Und wenn es im Advent wirklich um einen Neuanfang geht, um eine Überprüfung des eigenen Lebens, dann haben wir nicht nur Advent, sondern dann bin ich als Mensch selbst adventlich. Der Religionsphilosoph Martin Buber sagt: „Als Menschen sind wir nicht, wir werden erst“. Es genügt eben nicht, einfach da zu sein; es reicht nicht, still und vergnügt vor sich hinzuleben, Menschen wollen mehr. Wer nach Erfüllung sucht, nach etwas, was dem Leben Halt gibt, der kann nicht stehenbleiben und sich allein um sich selbst drehen. Der – oder die – ist selbst als Mensch adventlich, und deshalb sind die Wochen des Neuanfangs im Advent so wichtig.

Mit anderen ins Gespräch zu kommen ist für einen Neuanfang sicher eine gute Idee. Das geht auch mit einer Postkarte. Nur nicht mit einer, welche die eigene Meinung absolut setzt.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

20.11.2020
Matthias Viertel