Lust

Morgenandacht
Lust
11.11.2020 - 06:35
11.11.2020
Silke Niemeyer
Sendung zum Nachhören

Man weiß gar nicht, wie sie heißen, diese beiden Verliebten, denen wir jetzt zuhören.

 

Sprecher: (1)

Ich bin gekommen, meine Schwester, liebe Braut, in meinen Garten. Ich habe meine Myrrhe samt meinen Gewürzen gepflückt; ich habe meine Wabe samt meinem Honig gegessen; ich habe meinen Wein samt meiner Milch getrunken. (...)

Sprecherin:

Ich schlief, aber mein Herz war wach. Da ist die Stimme meines Freundes, der anklopft:

Sprecher: »Tu mir auf, liebe Freundin, meine Schwester, meine Taube, meine Reine! Denn mein Haupt ist voll Tau und meine Locken voll Nachttropfen.«

Sprecherin: »Ich habe mein Kleid ausgezogen – wie soll ich es wieder anziehen? Ich habe meine Füße gewaschen – wie soll ich sie wieder schmutzig machen?« Mein Freund steckte seine Hand durchs Riegelloch, und mein Innerstes wallte ihm entgegen. Da stand ich auf, dass ich meinem Freunde auftäte; meine Hände troffen von Myrrhe und meine Finger von fließender Myrrhe am Griff des Riegels.

(Hoheslied 5,1-5)

 

 

Darf man solch intimem Liebesgeflüster zuhören? Ja. Man soll es sogar. Es ist aufgezeichnet im Hohenlied, so wird das Buch der Bibel genannt. Ein Liebeslied, in dem zwei Verliebte ihrer Lust freien Lauf lassen. Was für ein wildes Verlangen!

 

Ich finde es großartig, dass dieses Buch Heilige Schrift ist. Manche sagen etwas verschämt, diese Literatur sei bloß in der Bibel, weil es ein Bild für die Liebe zwischen Gott und Mensch sei. Auch dann wäre es außergewöhnlich, wie sinnlich diese Liebe ausgemalt wird. Aber ich glaube, das ist nicht alles. Ich glaube, dass die menschliche Lust hier einfach als das gewürdigt wird, was sie ist: eine der heiligsten und schönsten Erfahrungen, die Menschen machen dürfen, eine göttliche Kraft und ein Gottesgeschenk. Wer das Liebesgedicht hört, kann nicht anders als an eigene selige Momente denken, in denen man sich verzehrte und begehrte – und den beißenden Seelenschmerz, wenn das Verlangen unerfüllt blieb.

 

In einem Bilderrausch beschreiben die beiden die Schönheit des geliebten Menschen, wie rein, wie unwiderstehlich er ist. Wie ein duftender Garten, wie eine Quelle, aus der Milch, Honig und Wein fließen, bist du! Sind es makellose Menschen, die da reden? Ach was! Es sind doch die Falten um die Augen, es ist deren Asymmetrie, es ist die Weichheit des Bauches, oder, oder, oder, die erregen und den geliebten zum schönsten Menschen der Welt machen. „Wenn du mich anblickst, werd ich schön“, beginnt ein Gedicht von Gabriela Mistral. (2)

 

So viel Lust. Und dann ist da trotzdem noch dieser andere unlustige Satz, der so viel mehr Wirkung entfaltet hat in meiner christlichen Religion: Du sollst nicht begehren! Letztes der Zehn Gebote. Lustfeindlich? Nein! Lustschützend! Besser sollte man sagen: Du sollst nicht habgierig sein. Lust ja, Habgier nein! Du sollst nicht habgierig sein nach dem Haus deines Nächsten, nicht nach seiner Frau, auch nicht nach seinem Körper oder nach seiner Seele. Hüte dich, dass dein Verlangen zur Habsucht wird. Dein Begehren aber kann und will Gott dir nicht verbieten.

 

Sprecher:

Wie schön und wie lieblich bist du, du Liebe voller Wonne! Dein Wuchs ist hoch wie ein Palmbaum. Deine Brüste gleichen den Weitrauben. Ich sprach: Ich will auf den Palmbaum steigen und seine Zweige ergreifen. Lass deine Brüste sein wie Trauben am Weinstock und den Duft deines Atems wie Äpfel, lass deinen Mund sein wie guten Wein, der meinem Gaumen glatt eingeht und Lippen und Zähne mir netzt.

Sprecherin:

Meinem Freund gehöre ich und nach mir steht sein Verlangen. Komm, mein Freund, lass uns aufs Feld hinausgehen und unter Zyperblumen die Nacht verbringen.

(Hoheslied 7,7-12)

 

 

Die gesprochenen Bibeltexte sind entnommen aus: Die Große HörBibel. Die Bibel nach Martin Luther. Altes und Neues Testament. MP3, Deutsche Bibelgesellschaft

https://www.deutschelyrik.de/scham.html

 

Gema-Angaben zu (1):

Verlag: Deutsche Bibelgesellschaft, Balinger Str. 31A, 70567 Stuttgart

Titel: Die Große HörBibel

Track: 22_Hohelied_07.mp3

Zeit: ges. 1‘44‘‘

EAN/ISBN: 978-3-438-01859-5

LC-Nr: 85142 

11.11.2020
Silke Niemeyer