Wohin die Reise geht

Morgenandacht
Wohin die Reise geht
26.10.2020 - 06:35
26.10.2020
Anette Bassler
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„Und wohin geht die Reise?“ In diesem Jahr sollte sie eigentlich weit weg gehen: China im Westen. Gebirgswanderung, Tigersprungschlucht, Blick auf den Himalaya- lange haben wir geplant! Aber die Reise ging nicht nach China. Sie ging aus dem Haus. Zu Fuß in die Weinberge. Und endete an einem Baum.

Dort saß ich im Sommer, die raue Rinde im Rücken. Oben die tanzenden Blätter, das flirrende Licht. Stunde um Stunde bin ich dort gesessen. Und war- einfach nur glücklich. Warum weiß ich bis heute nicht so recht. Denn eigentlich hätte ich ja irgendwo mit Blick auf den Himalaya sitzen sollen. Und eigentlich wären da noch so viele wichtige und schöne Termine gewesen. Aber auch die lösten sich in Luft auf oder haben sich ins Digitale verlagert.

Aber ich saß nur unter meinem Baum, schnupperte das blaue Nichts über mir und war glücklich. Dieses Jahr ging die Reise nicht ins ferne Abenteuer. Sie ging ins nahe Glück. Ins Glück des Augenblicks.

Der Augenblick, so der Theologe Sören Kierkegaard, ist nicht nur ein Moment. Er ist das Tor, durch das die Ewigkeit in die Zeit einbricht. „Verweile doch, du bist so schön!“ hat schon Goethe versucht, diesen Moment zu beschreiben. Aber mit Worten ist er nicht zu beschreiben, so schön. Und so flüchtig.

In diesem Sommer habe ich diesen Augenblick öfters erleben dürfen dort unter meinem Baum. Er hat mich zurückgelassen mit ungläubigem Staunen. Da wollte ich doch ein Weltwunder sehen weit weg. Und das Wunder ist zu mir gekommen. Das Tor zur Ewigkeit hat sich unter dem Baum geöffnet. Ganz nah bei mir in den Weinbergen!

„Was hilft es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt- und nimmt doch Schaden an seiner Seele“ hat Jesus mal gesagt. Ich gehöre zu denen, die gern die Welt gewinnen möchten. Nicht als Besitz, aber als Reiseziel. „1000 Orte, die man gesehen haben muss“- lautet der Titel eines Buches, das Hochkonjunktur hat bei allen Ü-50 Geburtstagsfeiern. Chinesische Mauer, spanische Treppe, Pyramiden von Gizeh- musst du gesehen haben! Weil: mit Rollator und leichter Demenz wird das schwierig.

„Was hilft es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt und nimmt doch Schaden an seiner Seele“, (1) gab Jesus zu bedenken. In diesem Sommer habe ich gelernt: Reisen bildet zwar und ist wunderschön, aber glücklich macht es nicht unbedingt. Es kann sogar unglücklich machen, wenn man vor lauter Stress und Herumrödeln kaum zur Ruhe kommt. Wenn man eigentlich getrieben ist von der Angst, etwas Wichtiges verpasst zu haben, bevor man stirbt.

Das Glück kommt also nicht erst, wenn du alles erledigt und erreicht hast. Das Glück ist schon da. Es wartet auf dich unter deinem Lieblingsbaum. Oder auf dem Weg durch deinen Wald. Oder in der Begegnung mit einem Menschen, der ein besonderer Mensch für dich ist. Das Glück braucht nur, dass du da bist. Dass du offen bist für den Augenblick. Und für die Weite des Himmels. Das habe ich in diesem Sommer verstanden.

Wenn man übrigens mal die Reiserouten anschaut, die Jesus hinter sich gebracht hat, dann fällt auf: Er hat sein ganzes Leben innerhalb einer Fläche gelebt, die so groß ist wie Rheinland- Pfalz. Die meisten Berichte der Bibel erzählen von einer Gegend am See Genezareth. Dort, innerhalb eines Dreiecks von drei Kilometern pro Achse, sind die meisten Geschichten passiert, von denen die Bibel erzählt. Noch heute unzählige Gedenksteine in diesem Gebiet. Sie erzählen von Wunderheilungen. Sie erzählen, wie Jesus mit wenig Broten und Fischen viele satt gemacht hat. Jesus hat dabei keine spektakulären Zauber veranstaltet. Er war einfach nur da. Mit offenem Herzen für Gott im Himmel und für die vor seinen Füßen auf der Erde.

Natürlich möchte ich auch in Zukunft gerne reisen, analog oder digital. Aber mein Glück werde ich darin nicht suchen. Eher die Möglichkeit, diese komplexe Welt ein bisschen besser zu verstehen. Den einen Augenblick des Glücks, in dem alles vollkommen ist, den gibt es überall, auch unter einem Baum zu Hause. Der Himmel öffnet sich überall. Ich glaube, dahin geht die Reise.

 

Literaturangaben:

1) Mt 16,25f; Mk 8,35f

Es gilt das gesprochene Wort.

26.10.2020
Anette Bassler