Maria

Morgenandacht

Unsplash / Alex Gindin

Maria
09.12.2021 - 06:35
15.09.2021
Silke Niemeyer
Sendung zum Nachhören

Feedback zur Sendung? Hier geht's zur Umfrage! 

Die Sendung zum Nachlesen: 

Sie wird schwanger, da ist sie noch ganz jung, vielleicht 16 Jahre alt. Es ist ein großes Gerücht und Gerede und Gerätsel um diese Schwangerschaft. Man erzählt, dass sie sich mit einem Soldaten eingelassen habe. Also, nicht „man“, genauer gesagt, erzählen Männer das, Celsus und seine Leute: Schon gehört? Ein gewisser Panthera hat der Kleinen den Balg angehängt (1). Ehrloses Ding. Ist danach rumgelaufen wie eine Landstreicherin. Hat das Kind heimlich irgendwo zur Welt gebracht, einen Jungen. Männertratsch, wie gesagt, mit diesem Hang zum Schlechtmachen, mit dieser Lüsternheit, die arme Mariam auch noch zur Schickse zu stempeln.

 

In Bosnien beginnen Kriegskinder zu reden, was die serbischen Soldaten ihren Müttern angetan haben, 25 Jahre nach dem Krieg. Sie sprechen über Massenvergewaltigungen damals, suchen ihre Identität. 20.000 Vergewaltigungen sind es offiziell gewesen; die Schätzungen reichen bis 50.000 (2). Der Penis wurde nicht erst da, er wird schon immer als Kriegswaffe eingesetzt. Zur Entwürdigung der Frauen, zur Demütigung ihrer Männer, zur Überwältigung des anderen Volkes, der anderen Religion. Die Mütter selbst schweigen meist eisern.

 

Wer hat Mariam das Kind gemacht? Die Phantasien blühen. Die Vermutungen schießen ins Kraut. Ist es ein Soldatenkind von einem Fremden? War es Gewalt, die ihr angetan wurde? Oder war es verbotene heimliche Liebe zu einem Feind? Oder hat sie es doch schon vor der Ehe mit ihrem Verlobten getrieben, diesem Zimmermann, der sie später geheiratet hat? Josef heißt er. Dem verdankt sie jedenfalls, dass sie nicht untergegangen ist mit all der Schande, die an ihr klebte. Er hat zu ihr gehalten. Gar nicht lang nach der Geburt ihres Jeschua ist sie wieder schwanger. Ja‘akov heißt ihr zweiter, Jehuda ihr dritter (Mk 6,3). Sie bringt noch viele Jungen und Mädchen zur Welt.

 

Aber die Frage ist immer noch in der Welt: Woher hat sie ihren ersten Sohn? Mariam schweigt eisern. Sie redet nicht über das, was zu ihrer Zeit als Schande gilt. Sie sagt nicht, wer das Kind gezeugt hat. Ihr Verlobter auch nicht. Ihr Sohn später auch nicht. Keiner weiß, wer der Vater ist. Keiner. Das Kind ist vom heiligen Geist gezeugt, sagen sie. Gott ist mein Vater, sagt der Sohn. Sie reden von Würde, Widerstand und wunderbarer Verwandlung, nicht von Biologie.

 

Mariam muss viel aushalten. Sie muss aushalten, dass Jeschua ausbricht aus der Familie und als Rabbi durchs Land zieht. Sie muss aushalten, dass er sich um Kopf und Kragen predigt und keine Warnungen annimmt. Er entfremdet sich. Sie ist sicher, dass er den Verstand verloren hat (Mk 3,21). Mit Gewalt möchte sie ihn zur Besinnung und nach Hause bringen. Er aber zeigt auf seine Anhänger und sagt: „Das ist jetzt meine Mutter. Das sind meine Geschwister“. Sie bleibt auch nicht vorm Schlimmsten verschont. Ihr Jeschua wird als Verbrecher hingerichtet. Aber sie ist ihm treu geblieben. Sie ist seine Mutter.

 

Und dies ist ihr Lied, im Gedenken an sie bis auf diesen Tag gesungen:

Magnificat!

 

Meine Seele lobt den Lebendigen,

und mein Geist jubelt über Gott, der mich rettet.

Er hat auf die Erniedrigung seiner Sklavin geschaut.

Seht, von nun an werden mich alle Generationen glücklich preisen,

denn Großes hat die göttliche Macht an mir getan

und heilig ist ihr Name.

Ihr Erbarmen schenkt sie von Generation zu Generation.

Sie hat Gewaltiges bewirkt.

Mit ihrem Arm hat sie auseinander getrieben,

die ihr Herz darauf gerichtet haben,

sich über andere zu erheben.

Sie hat Mächtige von den Thronen gestürzt

und Erniedrigte erhöht,

Hungrige hat sie mit Gutem gefüllt

und Reiche leer weggeschickt.

Sie hat sich Israels, ihres Dieners, angenommen

und sich an ihre Barmherzigkeit erinnert,

wie sie es unseren Vorfahren zugesagt hatte,

Sara und Abraham und ihren Nachkommen für alle Zeit. (3)

 

 

Literaturangaben:

 

  1. Origines referiert ein von Celsus tradiertes Gerücht, in: Luise Schottroff, Der Anfang des Neuen Testaments, 2019, S. 83
  2. https://www.deutschlandfunkkultur.de/jugoslawienkonflikt-die-kinder-des-krieges-wollen-nicht.979.de.html?dram:article_id=452696
  3. Übertragung an die Übersetzung der Bibel in gerechter Sprache angelehnt

 

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

15.09.2021
Silke Niemeyer