Nur ein dünner Faden

Morgenandacht
Nur ein dünner Faden
03.03.2021 - 06:35
23.02.2021
Ulrike Greim
Sendung zum Nachhören

Die Sendung zum Nachlesen: 

Es gibt sie noch, die kleinen Wunder, sagt der sympathische Mann mit der Brille. Da steht er an einem Hang vor einer Felswand und zeigt auf eine kleine Fichte, die sich da mutig in den Felsklüften hält. Irgendwie hatte sich ein Samen dahin verirrt. Da hängt sie nun, hält sich tapfer mit ihren Wurzeln zwischen den Steinbrocken fest und nutzt jeden Spalt, in die Tiefe zu kommen. Kleine Wurzelfäden ziehen sich nach unten. Erreichen sie die Erde? Muss wohl, sagt der Mann. Denn guck, die Fichte lebt. Sie ist sogar schon sehr alt. Wir schätzen ihr Alter auf sage und schreibe 150 Jahre. Wir staunen. Denn sie ist klein. Aber das Wunder ist: Sie lebt. Hier, wo es eigentlich herzlich wenig zu leben gibt – im Felsen. Aber sie ist tapfer und sucht und sucht, bis sie Wasser findet und Nährstoffe. Irgendwie klappt das. Phänomenal, nicht? 
 
Es gibt sie noch, die kleinen Wunder, sagt der junge, drahtige Mann. Eine seltene Krankheit hatte ihn ans Bett gefesselt. Er verlor nach und nach die Kontrolle über alle Muskeln, alle Kör-perfunktionen. Konnte nicht mehr reden, seine Augen nicht mehr bewegen. Er hatte die Fa-milie am Bett stehen sehen und gehört, wie sie sich von ihm verabschiedet. Dann hörte er die Schwestern, wie sie getuschelt haben, wohin sie den Leichnam schieben würden, weil der Platz auf Station knapp ist. Aber er starb nicht. Das Leben war nur ein hauchdünner Faden, es hat ihn versorgt mit – ja mit was eigentlich?! Er atmete, und dann konnte er wieder die Au-gen bewegen, später die Finger, dann die Arme und Beine und irgendwann stand er auf. Das Sprechen folgte deutlich später. Keiner weiß, wie genau das passieren konnte. Im Kranken-haus galt er als Wunderheilung. 

Was hält einen am Leben? Was ist der kleine Faden, die Wurzel, die mich versorgt, wenn alles andere lebensfeindlich ist? Wenn ich zwischen den Klüften hänge? Wenn mir alle Kontrolle ab-handenkommt und ich nichts, wirklich nichts mehr tun kann? 

Die Frau mit dem kleinen Laden hat fünf Angestellte. Den Kredit bei der Bank hat sie ausge-schöpft, der Mieter stundet die Miete nicht mehr, sie möge das bitte verstehen. Die Ar-beitsagentur reagiert schwerfällig bis gar nicht, die Überbrückungshilfe ist bewilligt, aber wird nicht ausgezahlt. Das Wasser steht ihr bis zum Hals. 

Was hält dich im freien Fall?
Der Schrei. Sie schreit. In die Kamera. Ihre Freundin postet es auf facebook. Tausende Likes. Ihr Schrei wird zigfach geteilt. Der Wille, das hier zu überleben, ist groß. Für einen Moment größer als die Angst. 

Andere haben es nicht ausgehalten. Wer berichtet eigentlich über die?

Gott, wenn es dich gibt, dann höre mich – jetzt! Lass nicht zu, dass ich ins Nirwana falle, dass sich die Felsklüfte zusammenschieben und mich zerquetschen. 
Gott, hörst Du mich? 
Welt, hörst Du mich? Ist da wer?

Was hält einen am Leben? Was ist der kleine Faden, die Wurzel, die mich versorgt, wenn alles andere mich vertrocknen und erfrieren lässt?

Kleine Wunder. Kleine Fäden, die es schaffen, bis in den Waldboden zu wachsen und Wasser zu ziehen, Nährstoffe. Winzig kleine Fäden, die auch im Winter wachsen. Denen der Frost nichts anhat, weil: Tief im Boden gefriert es ja nicht. Da ist Leben. Da sind andere Wurzeln, die kommunizieren. Die mitversorgen, die solidarisch sind. Der Wald ist eine Solidargemeinschaft – bis hoch ins Gebirge. Kein Baum steht für sich.

Und kein Mensch. Keiner ist so allein, dass nicht eine winzige Beziehung zu irgendwem führt, der helfen kann. Keine ist so allein, dass nicht ein Schrei die anderen wecken kann. Mädchen – schrei! 

Denn es gibt sie noch, die kleinen Wunder. Die Kontakte, und seien sie uralt oder auch ganz frisch. Und die unerwartet helfen. Sie tun gut. 

Gott, du lässt das nicht zu, oder? Du lässt mich nicht fallen. Du hältst mir den Untergang vom Leib. Du schickst mir die rettende Freundin. Du versorgst mich doch, oder? Hörst du? 

Du hast doch schon ganz andere durchgebracht. Ganz andere. Ich halte mich einfach an dir fest. Du bist die Wurzel und ich lasse dich nicht los. Du bist mein Wunder. Ich vertraue einfach auf dich. Bis ich wieder auf eigenen Beinen stehen kann und gehen kann. Ich entlasse dich nicht. Du segnest mich denn.
 

 

Es gilt das gesprochene Wort.

23.02.2021
Ulrike Greim