Perspektivwechsel

Morgenandacht

Gemeinfrei via unsplash/ Harli Marten

Perspektivwechsel
16.02.2022 - 06:35
28.01.2022
Eberhard Hadem
Sendung zum Nachhören

Feedback zur Sendung? Hier geht's zur Umfrage! 

Die Sendung zum Nachlesen: 

Er liegt schon Jahre zurück, dieser Spaziergang. An einem See, zusammen mit einem Freund. Die Treue meines Freundes stammt aus Kindertagen und hat bis heute viele Stürme überstanden. Ich stehe vor einer Lebensentscheidung. Meine Gedanken drehen sich im Kreis und finden keinen Ausweg. Am See ist es kalt, das neue Jahr hat gerade erst begonnen. Wir laufen, kaum jemand sonst ist unterwegs. Ich erzähle und er hört zu. Dann gehen wir lange nebeneinander ohne zu reden. Über dem See liegt Nebel. Warm eingepackt in dicke Winterjacken kann ich beim Gehen unseren Atem sehen.

Dann beginnt er zu reden: Wie er mich erlebt hat. Wie ich aus seiner Sicht Entscheidungen treffe. Wie ich an Dinge herangehe, bei denen es auf Vertrauen und nicht auf Kontrolle ankommt. Er sagt mir, wie er mich sieht. Das ist anders, als ich mich zu kennen glaube. Es ist unangenehm für mich, zuzuhören, sogar erschreckend. Wie ich mich regelmäßig selber daran hindere, das Gute zu tun. Ich weiß, dass er sich in meiner Lebensgeschichte gut auskennt. Bei vielen Dingen war er dabei, war unmittelbarer Zeuge. Anderes haben wir beide schon oft besprochen. Wenn mich einer kennt, dann er. Auch wenn er mich ganz anders sieht, als ich es selber im Rückblick tue. Die aus meiner Sicht guten und vernünftigen Argumente lässt er nicht zu. Weil er weiß, dass ich mich dahinter verstecke. Er redet ehrlich mit mir, geht mit mir um den See, und das lässt mich weiterkommen: Während er spricht, verwandelt sich meine Welt, meine Gedanken, mein Fühlen. Ich weiß jetzt, was ich machen muss. Nein, was ich entscheiden will. Ich habe einen Freund gebraucht, der mir hilft, Dinge anders wahrzunehmen. Mich anders zu sehen.

Solche Momente, in denen sich das Leben und meine Einstellung dazu spürbar wandeln, erlebt man selten. Doch auf einmal weiß man, wohin die Reise geht im Leben. Der Weg ist klar vor Augen. Damit das geschehen kann, braucht es einen Freund. Der mein Leben kennt. Der meine Erinnerungen anders sortiert und mir Neues zeigt. Auch wenn es schmerzt. Immer wieder staune ich darüber, wie stark ich mich an immer gleiche Muster klammere. Und an Bildern festhalte, die ich von mir oder anderen habe. Wie uneinnehmbare Festungen sind sie, hinter denen ich mich sicher fühle. Dort kenne ich mich bestens aus. Diese Bilder werden scheinbar zu unwiderlegbaren Beweisen, aufbewahrt in meinem inneren Archiv. Und sobald eine ähnliche Erfahrung sich nähert – blinken die Synapsen an der gewohnten Stelle auf: Ich wusste es ja schon immer.

Ein Freund sieht anderes, als mein inneres Archiv mich glauben machen will. Diese andere Wahrnehmung ist wichtig. Es braucht Vertrauen, sie zu äußern. Und es braucht Vertrauen, sie zu hören. Was mir ein Freund sagt, hat seine eigene Wahrheit. Es ist sein Blick, seine Sichtweise. Natürlich kann auch die falsch sein. Natürlich kann auch er sich irren. Aber sie lässt mich entdecken, was ich ohne den Freund nicht erkannt hätte. Das ist eine ganz besondere Chance: Ich kann mit seiner Hilfe für einen kurzen Moment mich selber anders anschauen. Nur so viel, wie ich es aushalte. Aber immerhin.

Das kann voll danebengehen, wenn sich einer gekränkt fühlt, statt sich der anderen Sichtweise zu stellen. Es geht dann schief, wenn es ungerecht wird, mit persönlichen Angriffen. Jede Intervention ist riskant. Auch ich tue mich schwer, offen und direkt zu sprechen. Und noch schwerer, zuzuhören. Es erfordert Mut auf beiden Seiten: Der Freund, der etwas anspricht, braucht Mut. Und der andere auch, dass er es mutig annimmt. Die Bibel nennt einen solchen Freund Bruder: …so gehe hin und weise ihn zurecht zwischen dir und ihm allein. Hört er auf dich, so hast du deinen Bruder gewonnen (Mt. 18, 15).

Es gilt das gesprochene Wort.

 

 

28.01.2022
Eberhard Hadem