Drei Engel gegen Putin

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Gemeinfrei via unsplash / Ralf Skirr

Drei Engel gegen Putin
Die Angst im Nacken
23.10.2022 - 10:00
20.10.2022
Björn Raddatz

Der Krieg, mit dem Putins Russland die Ukraine völkerrechtswidrig überzieht, beschäftigt Menschen seit Monaten. Christen ringen nach wie vor um eine Haltung: Wie soll ich mit dem Krieg umgehen, als Einzelperson, als Kirchenmitglied? Ein durchaus biblischer Vorschlag: Traut den Engeln!

Ein Kollege sitzt mir in der Mittagspause in der Kantine gegenüber: Er scrollt über’s Handy. „Hast Du gehört, was der Irre aus Moskau jetzt wieder befohlen hat!“ Nein, ich hatte es nicht gelesen. Nach Monaten des Krieges bin ich der Frontberichterstattung müde geworden, das gebe ich zu. Ich lese noch die Überschriften, folge dem Geschehen in den Fernsehnachrichten. Aber ich lese längst nicht mehr jeden Zeitungsartikel in jeder News-App auf dem Handy, nicht jede Analyse dessen, was wohl in Putins Kopf vorgeht. Der Kollege will nicht abstumpfen. Er scrollt weiter - es hört ja auch nie auf, in sozialen Medien kann man immer weiter und weiter wischen, es werden immer mehr Inhalte ausgespielt. Doomscrolling gegen den Krieg?

Die Angst im Nacken
Der Kollege hat gerade alle Kommentare zur atomaren Bedrohung durch Russland überflogen. Wird die Bombe fallen? Wenn ja: Wohin? Wird eine Wolke bis zu uns ziehen? Die Ukraine ist ja nicht weit! Und was, wenn Putin einfach behauptet, wir seien Kriegspartei und uns angreift! Mit einer Atombombe? Dem Verrückten sei ja alles zuzutrauen, meint mein Kollege.
Auch mich beschäftigt nach wie vor, wie der Ukraine-Krieg wohl weitergeht. Wie lange wird er noch dauern - und was passiert danach mit der Ukraine? Was geschieht mit Russland nach dem Krieg? Aber ich denke auch: Ob ich mich über jedes Detail informiere oder nicht, das ändert nichts am Krieg. Und habe das Gefühl ziemlich machtlos zu sein. Was ich kann, ist: eine Haltung entwickeln - die aber auch nur wenig maßgeblich ist fürs Geschehen. Aber nicht für mich selbst, denn der Krieg kratzt ja auch an meinen Überzeugungen.

Hatten wir damals Unrecht?
Ich habe in den 80er Jahren den Kriegsdienst mit der Waffe verweigert. Als Christ habe ich mich auf den biblischen Satz „Du sollst nicht töten“ berufen. Mein Gewissen wurde - wie die Gewissen vieler junger Männer damals - von einer Kommission geprüft. Ich habe Zivildienst geleistet. Ich habe in einem Krankenhaus unter Schwester Hannelore gedient. Das war sicher keine Drückebergerei, dieses Argument gab es damals noch gegen uns Pazifisten. Mein Dienst kam mir härter vor als der Wehrdienst. Davon erzählten damals Bekannte, die als Soldaten in der Eifel eine Halle bewachen mussten. Angeblich voller Atomwaffen der Amis. Aber wirklich gewusst hat das keiner der Wehrdienstleistenden. Sehr öde und ereignisarm, befeuchtet von Bier. Hatte ich am Ende nicht für mein Land und die Menschen sinnvolleres getan? Dem kalten Krieg folgten Jahrzehnte, in denen es sich meine Generation mit ihrer pazifistischen Grundhaltung recht bequem machen konnte. Die Wehrpflicht wurde 2011 von der konservativ geführten Regierung ausgesetzt. Die Kriege und Konflikte waren weit weg.

Nichts ist gut
Das Thema ploppte noch einmal auf, als die damalige EKD-Ratsvorsitzende Margot Käßmann in einer im Fernsehen übertragenen Predigt den Satz sagte „Nichts ist gut in Afghanistan“. Eine Welle der Empörung schwappte ihr entgegen, seinerzeit - und als viel später, letztes Jahr, die Taliban die Macht in Afghanistan wieder übernommen hatten und die westlichen Armeen aus dem Land abzogen, da dämmerte vielen: Die Theologin hatte recht.
Und jetzt? Dieser Krieg stellt alte Überzeugung infrage. In den Kirchen gibt es einige, die bei ihrem radikalen Pazifismus bleiben. Ich habe das Argument häufiger gehört: „In den 80ern habe ich in Bonn demonstriert, ich war dabei! Ich habe den Kriegsdienst verweigert und war sicher, dass es keine Kriege gibt, wenn niemand bewaffnet ist. Wir Christen müssen für zivile Konfliktlösung eintreten.“ Ich hadere inzwischen mit dieser Einstellung: Um das eigene Leben, die eigene Überzeugung nicht infrage stellen zu müssen, dringen manche Christinnen und Christen darauf, der Ukraine keine Waffen zu liefern. „Krieg darf nach Gottes Willen nicht sein!“. Das ist schon richtig. Aber ich habe das mulmige Gefühl, damit die Realität des heißen Kriegs in unserer Nachbarschaft zu ignorieren: Die ganz konkreten russischen Soldaten, die mit Panzern, Drohnen und Raketen auch zivile Ziele angreifen? Ist das nicht zynisch, da bloß ein Seminar in ziviler Konfliktlösung zu empfehlen?

Die Ratlosigkeit der evangelischen Kirche
Dieses Dilemma spüre ich nicht allein. Auch in der offiziellen Stellungnahme der EKD ist das ratlose Schwanken herauszulesen: zwischen dem Pazifismus, dem Christinnen und Christen sich verpflichtet fühlen, und der realen Bedrohung und einer Haltung, die nicht zynisch sein darf. Die EKD schreibt: „Dennoch sehen wir das Dilemma verschiedener Optionen zwischen dem grundsätzlichen Wunsch nach einer gewaltfreien Konfliktlösung und dem Impuls, angesichts eines Aggressors, der auf brutale Weise geltendes Völkerrecht missachtet und Kriegsverbrechen begeht, die Ukraine mit Waffen zu unterstützen. Unbestritten ist das Selbstverteidigungsrecht der Ukraine im Blick auf die gegen sie gerichteten Aggressionen.
Ich erlebe diesen Satz als Stellungnahme gewordenen Seufzer. Und verstehe auch, dass sich aus kirchlicher Sicht wohl kaum anders reagieren lässt.

Engel!
In der Mittagspause in der Kantine, beim Scrollen über die Handy-News, ist dieser lange EKD-Satz kein mentaler Anker. Aber es gibt auch die Bibel-App der Deutschen Bibelgesellschaft. Ehrlich gesagt: sonderlich oft benutze ich die App gar nicht. Aber diesen einen Satz empfehle ich mir nun doch: „Fürchte Dich nicht“. Ich tippe ihn ins Suchfeld ein, Enter: Eine sehr lange Ergebnisliste. „Fürchte Dich nicht“ sagt Gott ganz am Anfang der Bibel im ersten Buch Mose zu Abraham. Und er sagt es immer wieder. Immer wenn die Lage brenzlig wird und unübersichtlich: Gott selbst oder ein Engel kommt und sagt „Fürchte Dich nicht“. Bis man beim „Fürchte Dich nicht“ des Engels in der Weihnachtsgeschichte angekommen ist, muss man sehr weit scrollen.
Einer der roten Fäden der Bibel: die Furcht ist keine gute Ratgeberin. Eins unterscheidet die Bibel dann doch vom Doomscrolling auf Nachrichten-Apps: Irgendwann ist Ende. Das letzte „Fürchte Dich nicht“ steht in der Offenbarung des Johannes, dem letzten Buch der Bibel.
Hab keine Angst, fürchte dich nicht! Das ist ein guter mentaler Anker. Denn das sagen viele Kommentare in den News-Apps: Putin preist unsere Angst in sein Handeln ein. Er will, dass wir vor Angst starr und kopflos sind – als Gesellschaft und jede und jeder einzelne. Ich empfehle, von Zeit zu Zeit für die eigene geistige Gesundheit ein „Fürchte Dich nicht“. Drei Engel (oder mehr) gegen Putin.

 

Link zur EKD-Stellungnahme: https://www.ekd.de/kiko-ekd-gewalt-beenden-dem-hass-entgegentreten-72457.htm

20.10.2022
Björn Raddatz