Die alte Frage

Wort zum Tage
Die alte Frage
15.06.2020 - 06:20
30.01.2020
Evamaria Bohle
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„Religiös? Wie wird man das eigentlich?“ Der Fragesteller lehnt sich in seinem Stuhl zurück, nimmt einen Schluck Kaffee und mustert mich neugierig. Wie eine seltene Spezies, die ihm nicht ganz geheuer ist. Gleich wird er um mich herumgehen und sich Notizen machen. Ich fühle mich aus der Art geschlagen und habe das spontane Bedürfnis, mich von mir selber zu distanzieren. Eine Antwort bleibe ich schuldig.

Wie wird man religiös? Vielleicht hätte ich sagen können: Mich fasziniert die Bibel. Sie hat etwas Ozeanisches. Immer gleich, immer anders, immer tief und weit, immer lebendig. Surfen, Schwimmen, Segeln, tauchen und womöglich ertrinken. Angeln ginge auch. Muscheln sammeln oder am Strand bleiben und schauen. Wasserproben nehmen, Strömungsgeschwindigkeiten bestimmen.

Die Bibel hat Tiefen und Untiefen. Ebbe, Flut und ich in einer Nussschale zwischen den Wogen. Darauf vertrauend, dass schon einer den Sturm stillen wird. Dass das Ufer immer nur einen Gedankensprung entfernt ist. Und selbst, wenn ich im Landesinneren wohne, hinter den sieben Bergen mit den anderen Landratten, ist doch der Ozean dort im Bücherregal, bleiben mir Wolken und Regen und die Sehnsucht nach der Küste.

Mich fasziniert die Bibel, hätte ich sagen können. Ist das religiös? Sie hat etwas Ozeanisches und fordert den Intellekt heraus, lockt die Sinne, weckt Fragen und Widerspruch, lässt Bilder aufsteigen, spült Erinnerungen und Träume aus meiner Seele.

Ich lese die Bibel, die Bibel liest mich. Ich kehre immer wieder zurück an die Ufer der alten Texte, lausche ihrem Murmeln und Glucksen, dem Brausen und Toben und weiß nie vorher, was ich hören werde: die Irrtümer lange vergangener Zeiten, einen Klang, der die eigenen Tiefen schwingen lässt oder irgendetwas dazwischen.

Ich streife den Spott ab, die Scham und folge der Sehnsucht. Mich lockt der Glanz und das Glitzern zwischen den Kieseln und Findlingen am Grund der Geschichten. Der Gottesglimmer - Gold oder Katzengold? Element oder Mineral?

Bis zu den Knien steh ich im Licht, in funkelnder Rastlosigkeit und Gottessehnsucht, lasse mich zwischen die Zeilen gleiten, schwimme weit raus. Und wo kein Grund mehr zu sehen ist, drehe ich mich auf den Rücken und lasse mich treiben zwischen Himmel und Erde, lausche, was aufsteigt aus der tiefen Stille hinter dem Besserwissen und spüre: Ich bin da. Ein Hauch, der die Welt zusammenhält. Mich fasziniert die Bibel. So wurde ich religiös.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

30.01.2020
Evamaria Bohle