Die Kraft des Kindes

Wort zum Tage
Die Kraft des Kindes
30.11.2020 - 06:20
30.11.2020
Pfarrerin Marianne Ludwig
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Voller Stolz präsentiert die Mutter ihr Neugeborenes der Familie. Die Kamera ist dabei und fängt die Reaktionen des Vaters, der Tanten und Onkel ein. Alle strahlen, manche haben Tränen in den Augen. Immer wieder umarmen sie sich und irgendwann fassen sich alle dann den Schultern und beginnen, im Kreis zu tanzen. Mitten im Kreis: Die Großeltern, die ein weißes Tuch über den Köpfen schwenken, als Zeichen der Freude. Ein anderes Kind, drei Jahre alt mag es sein, wird auf den Schultern durch den Saal getragen. Der Filmausschnitt stammt offenkundig aus den 50er Jahren und dauert nur wenig mehr als eine Minute. Er ist Teil der neuen Dauerausstellung im Berliner Jüdischen Museum: Jüdische Geschichte und Gegenwart in Deutschland.

Wenn ich ein Bild für Freude und Hoffnung finden müsste, es wäre dieses. Ein Baby ist ein Fleisch gewordener Neuanfang; es ist die Zukunft selbst. Christen sagen: In jedem Kind kommt Gottes Liebe zu den Menschen neu zur Welt.

Aber der kleine Filmausschnitt zeigt noch mehr: Auf den Gesichtern dieser jüdischen Familie, die den neuen Erdenbürger feiert, liegen Freude und Hoffnung zugleich. Dabei sitzen die Schrecken der Vergangenheit erkennbar noch allen in den Knochen. Das zweite Großelternpaar fehlt und nur ein weiteres Kind ist zu sehen. Aber dieses Baby verkörpert den Sieg des Lebens und der Liebe! Wer hätte sich das noch wenige Jahre zuvor vorstellen können: In sich zusammengefallen ist der totale Machtanspruch des sogenannten dritten Reiches über Leben und Tod. Hitler und der Nationalsozialismus sind untergegangen, aber das, was sie auslöschen wollten, hat überdauert: Jüdisches Leben. Ein Baby ist das Unterpfand. Es scheint zerbrechlich, ist auf andere Menschen und ihre Fürsorge angewiesen, um zu überleben. Und doch geht von diesem Kind eine Kraft aus, die die anderen ansteckt. Und dieses Wunder feiern sie.

Es ist das Wunder, von dem auch die Bibel erzählt.  Von dem Neugeborenen in Bethlehem geht eine Kraft aus, eine Leuchtkraft, die bis zu uns hin reicht und die wir bis heute feiern. Vielleicht nicht so ausgelassen, wie die jüdische Familie in dem Film aus den 50er Jahren. Vielleicht nicht zusammen im größeren Familienkreis. Aber wir werden feiern und - bei allem gebotenen Abstand - zusammenrücken. In der Adventszeit gehen wir jeden Tag dem Fest ein weiteres Stück entgegen. Bis wir am Heiligen Abend feiern, worauf nicht nur Christen hoffen: Leben, Liebe und eine Zukunft, die offen vor uns liegt. Wie für das Neugeborene in Bethlehem.

 

Es gilt das gesprochene Wort. 

30.11.2020
Pfarrerin Marianne Ludwig