Mauerkinder

Wort zum Tage
Mauerkinder
Ein Nachruf
13.08.2019 - 06:20
13.06.2019
Barbara Manterfeld-Wormit
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Wut macht ohnmächtig. Gerd Rücker wollte nicht ohnmächtig sein. Also nahm er sein Fahrrad. Trat in die Pedale. Fuhr am Todesstreifen entlang solange, bis er nicht mehr konnte. Ohne Ziel und ohne Zeitgefühl. In sich die Wut eines jungen Mannes, den man eingesperrt hatte: keine Badeausflüge mehr mit Freunden an den Wannsee. Kein Kino, kein Theater, kein Konzert im anderen Teil der Stadt, in der er zuhause war. Kein Besuch mehr bei Verwandten, selbst dann nicht, als die Tante im Sterben lag. Die Hand quasi zum Greifen nah. Dazwischen der Stacheldraht. Gerd Rücker war jung – da will man raus: hinaus in die Welt, Grenzen überschreiten. Doch er durfte nicht rüber. Weil er zu jung war. Nur für Rentner, für die das meiste Leben schon gelebt war, wurde die Grenze großzügig einen Spalt geöffnet. Für die, die sie noch vor sich hatten, gab es keinen Durchlass. Nur die Republikflucht. Aber Gerd Rücker wollte nicht fliehen. Er wollte bleiben. Genau hinsehen. Wach sein, beobachten, das Unrecht dokumentieren. Heute vor 58 Jahren – am 13. August 1961 – verlor Gerd Rücker seine Freiheit. Und holte sie sich zurück: Erst fuhr er Fahrrad entlang des Mauerstreifens, dann begann er, die lange Wunde quer durch die Stadt zu fotografieren – heimlich von der Ostseite aus. Er kundschaftete geeignete Orte aus, kroch in leerstehende Häuser, passte den einen Moment ab – immer in der Gefahr entdeckt und wegen Vorwurfs der Spionage von Grenzanlagen verhaftet zu werden. Seinen besten Freunden erzählte er nichts. Nur seiner Frau. Die Fotos mussten ja zuhause im Bad entwickelt werden. Im Fotoladen wäre Gerd Rücker aufgeflogen. „Die Bilder sollen bewusst machen, dass diese Teilung widernatürlich und unmenschlich ist“, schreibt er später 2015 im Vorwort eines Bildbandes, der eine Auswahl seiner Fotos veröffentlicht. Im Mai ist Gerd Rücker gestorben. Seine Freunde und Weggefährten nahmen Abschied mit einem Psalmwort, das ihm zu Lebzeiten wichtig war: „Wenn der HERR die Gefangenen Zions erlösen wird, so werden wir sein wie die Träumenden.“ Gerd Rücker war ein Träumer und ein besonderer Zeitzeuge: „Was wir einander vermitteln können“, erzählte er mir in einem Interview, „sind die Geschichten, die uns persönlich betreffen. Daran kann man am besten die ganze, große Geschichte nachvollziehen.“ Nach diesem letzten Interview vor einem Jahr kam Gerd Rücker noch einmal in mein Büro – ein Kavalier der alten Schule: mit einem Pralinenkasten und einem Foto mit Widmung. Es zeigt die Glienicker Brücke aus dem Jahr 1976. Da war ich gerade einmal acht Jahre alt. Das Bild hängt nun in meinem Büro. Und ich erzähle seine Geschichte weiter. Damit wir Träumende bleiben.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

13.06.2019
Barbara Manterfeld-Wormit