Perspektivwechsel

Wort zum Tage
Perspektivwechsel
19.06.2020 - 06:20
30.01.2020
Evamaria Bohle
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„Danke für diesen guten Morgen“. Evangelisches Kirchengesangbuch Nummer 334. Sechs Strophen, fünfzehnmal Danke an Gott, gipfelnd in den Dank danken zu können. Das einzige Kirchenlied, dem eine Platzierung in den westdeutschen Singlecharts gelang. Weiß Wikipedia. 1963 war es tatsächlich ein Hit.

Dankbarkeit ist Ansichtssache. Eine Perspektive, die man wählen kann. Die Aufforderung, Danke zu sagen, steht dagegen immer mit leicht erhobenem Zeigefinger da. Kein Lächeln kann das kaschieren. Die Frage „Hast du schon Danke gesagt?“ kommt immer eher von oben herab. Eine Aufforderung zu gutem Benehmen. Sei höflich. Sag Danke. Auch, wenn es sich mal falsch anfühlt.

Auf der Volksbühne im ehemaligen Ost-Berlin begegnet mir in den Neunzigern das Danke-Lied erneut. Das Bühnenbild: Ein ungemütlicher Wartesaal. Einer am Klavier singt und spielt sich durch alle Strophen, jede einen halben Ton höher intoniert. Bei jedem Danke fällt der Chor der unfreiwillig Wartenden und Singenden ein. Männer und Frauen mit ausdruckslosen Gesichtern. Gleichgültig, wie automatisiert, sagen sie Danke. Höher und höher zwingt sie das Lied, immer anstrengender und schriller wird der Gesang, die Gesichter bleiben unverändert teilnahmslos. Es ist beklemmend und auf eine tief traurige Weise komisch. Auf Youtube konserviert.

Der Regisseur Christoph Marthaler hatte 1993 mit seiner Inszenierung „Murx den Europäer“ ein Lebensgefühl der zu Ende gehenden DDR eingefangen: die Fatalität, das Absurde, das Warten, die Bürokratie, die Undurchschaubarkeit. Aus Westdeutschland begleitet mit der arroganten Forderung dankbar zu sein: für Freiheit, Mark und Marktwirtschaft. Sag Danke!

Dass es sich lohnen kann, Dankbarkeit zu trainieren wie einen Muskel, habe ich mitten in einer Depression gelernt. Für den neuen Morgen, die Arbeitsstelle und das kleine Glück, für das Schnurren der Katze und das Leuchten des Löwenzahns an der Tramhaltestelle. Jeden Tag überlegen, was schön war. Drei Gründe zur Dankbarkeit finden. Systematisch, ohne aufgesetzte Munterkeit. Es war in der Depression überlebenswichtig zu lernen, die positiven Dinge überhaupt wahrzunehmen, um nicht unterzugehen in der miesen Gesamtsituation. Damals habe ich verstanden, Dankbarkeit ist kein Gefühl. Dankbarkeit ist eine Haltung. Sie braucht offene Augen. Denn dann kann sich, was man sieht, tatsächlich ändern, ohne dass sich der Gegenstand ändert. Es funktioniert, und auch das ist eigentlich ein Wunder, für das man Danke sagen kann.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

30.01.2020
Evamaria Bohle