Selbsterkenntnis

Wort zum Tage

Gemeinfrei via unsplash/ Aaron Burden

Selbsterkenntnis
mit Pastor Diederich Lüken
07.02.2022 - 06:20
06.02.2022
Diederich Lüken
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Sehr verschieden können die Menschen sein, die sich in ein und demselben Raum befinden, und man kann in der Regel nicht gleich erkennen, welcher Art und Natur der Mensch ist, der vor mir steht. In einem religiösen Raum, einer Kirche zum Beispiel, ergibt sich sogar noch ein weiteres Merkmal, die Menschen zu unterscheiden. Der eine steht offenbar fest in seinem Glauben, spricht und singt vollmundig alles mit, was dazugehört. Der andere kommt mit einem schlechten Gewissen, weil er fürchtet, den moralischen Ansprüchen seiner Kirche nicht zu entsprechen. Damit verbinde ich eine Geschichte aus dem Neuen Testament, eine bekannte Gleichniserzählung Jesu. Da steht ein religiöser Profi, ein Pharisäer, vornean im Tempel und ist sich offenbar seiner Position bewusst. Sicher ist ihm klar, dass er das Ganze nicht aus eigener Kraft leisten kann, sondern dass Gott selbst ihm seinen Glauben als Gnade geschenkt hat. So wendet er sich im Gebet Gott zu und dankt ihm. In demselben Raum steht ein anderer Mann, der nun gar nicht von sich selbst eingenommen sein kann. Er hat beim Zoll-Einnehmen betrogen. Das Geld wanderte in die eigene Tasche. Zudem ist er bei vielen verhasst, weil er einem Regime dient, das sein Land besetzt hält. Der Pharisäer tut das Allzumenschliche und vergleicht sich mit diesem Zöllner. Vor diesem dunklen Hintergrund sieht er sich selbst nun in einem anderen Licht. Und betet auch anders: „Ich danke dir, Gott, dass ich nicht so bin wie jener“. Der Zöllner dagegen bittet: „Gott, sei mir Sünder gnädig!“ Jesus sagt mir mit diesem Gleichnis: Der reuige Sünder ist bei Gott willkommen, nicht aber der im Glanz seiner Dankbarkeit strahlende religiöse Profi. Dadurch, dass er sich mit dem Zöllner vergleicht und dabei überheblich wird, ist er im Sinn der Erzählung ebenfalls ein Sünder. So weit, so gut! möchte man meinen. Wenn es zu dieser Geschichte nicht eine überraschende Volte gäbe. Sie stammt von dem Dichter Eugen Roth:


Ein Mensch betrachtete einst näher
die Fabel von dem Pharisäer,
der Gott gedankt voll Heuchelei
dafür, dass er kein Zöllner sei.
Gottlob! rief er in eitlem Sinn,
dass ich kein Pharisäer bin!
(1)


Diese originelle Wendung sprengt das einfache Muster und eröffnet einen klaren Blick auf sich selbst. Es ist wohl so, dass jeder Mensch grundverschiedene Möglichkeiten in seiner Brust trägt. Es kommt darauf an, welche er die Überhand gewinnen lässt.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

Literaturangaben:

 

(1) Eugen Roth: Sämtliche Menschen, Sanssouci, München 2006, S. 159.

06.02.2022
Diederich Lüken