Widerständig weiterlieben

Wort zum Tage

Gemeinfrei via Pixabay/ Sabine van Erp

Widerständig weiterlieben
von Christina-Maria Bammel
27.12.2022 - 06:20
01.08.2022
Christina-Maria Bammel
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Es dauert 45 Minuten, bis sie das Haus verlassen können. Um mal durch den Park zu gehen zum Beispiel. Die Wohnung ist Hochparterre, rollstuhlgängig, extra umgebaut. Doch braucht es diese dreiviertel Stunde, bis er und seine an Multipler Sklerose erkrankte Frau vom Wohnzimmer auf die Straße kommen. Sie ist die Liebe seines Lebens. Von der Trauung erzählt er und von dem einen Satz, den er seit damals erinnert: Liebe sei die Kraft, der Gegenwart gerecht zu werden. Als sie sich kennengelernt haben, wussten beide nichts von der schleichenden Krankheit. Seit 20 Jahren sitzt sie im Rollstuhl, und immer kleiner sind die Möglichkeiten geworden sich zu bewegen oder zu sprechen. Immer größer der Pflegeaufwand, den ihr Mann für sie stemmt. Irgendwann konnte er nicht mehr und ist zusammengebrochen. Er brauchte Hilfe. Inzwischen gibt es neben dem Pflegepersonal ein privates Netz von Freunden, die mit unterstützen. Aber für ihn bleibt es beim eng getakteten disziplinierten Alltag, damit alles bewältigt werden kann. Die Krankheit fragt nicht, ob Weihnachten, ein Feiertag oder ein ganz normaler Wochentag ist. Da geht er  arbeiten, als Ingenieur in Leitung. Was er gern tut. Er mag seinen Beruf. Der Ehemann weiß genau, was er von morgens halb sieben bis spät in die Nacht, rund um die Uhr, zu tun hat. Anders geht es nicht bei diesem Pflegegrad.  Das macht ihn nicht wütend, nicht verzweifelt, nur oft ratlos. Zumal weil gerade alle Kosten, die er selbst aufbringen muss, über 30 Prozent angestiegen sind.  Also hat er die Leistungen der Pflegedienste reduziert, damit er sich finanziell nicht überfordert. Nur wer macht jetzt die Arbeit? So ähnlich fragen sich das fast 8 Millionen Menschen, die ihre Eltern, Partner, Kinder pflegen. Was sie leisten, ob Feiertag oder Alltag, tun sie mit Liebe, mit Hingabe – auch bis zur völligen Erschöpfung. Er kann den Satz nicht mehr hören: Zu viel Einkommen für staatliche Hilfe und zu wenig Einkommen, um die Kosten zu tragen. Statt Abrechnungsbögen auszufüllen und Widersprüche einzureichen, mal die erwachsene Tochter besuchen oder in ein Konzert, ins Kino gehen. Das wäre schön! Statt Antragsformulare herunterzuladen, Urlaubstage für sie beide zwischen den Jahren planen. Das würde der Mittfünfziger gern mal tun. Wie war das: Die Liebe sei die Kraft, der Gegenwart gerecht zu werden. Auch wenn einem die Gegenwart viel abverlangt. Widerständig weiterlieben. So viele sorgen täglich für dieses Wunder. Und noch viel mehr können dafür sorgen, dass die Pflegenden dabei nicht allein bleiben.

Es gilt das gesprochene Wort.

 

01.08.2022
Christina-Maria Bammel