Feedback zur Sendung? Hier geht's zur Umfrage!
Die Sendung zum Nachlesen:
Ich bin gern zu Gast in Klöstern, besonders in evangelischen Klöstern und Kommunitäten. Seit dem letzten Jahrhundert gibt es auch im Protestantismus wieder Klöster. Ich liebe sie, denn sie verbinden protestantisches Denken mit der großen Tradition der Christen aller Zeiten.
Besonders mag ich an Klöstern die Horen, sie heißen auch Stundengebete oder Tagzeitengebete. Morgens die Laudes, das sind Lobgesänge, mittags die Sext, benannt nach der sechsten Stunde des Tages in der antiken Zeitrechnung, abends die Vesper und dann die Komplet zum Beschließen des Tages. Man kommt mehrmals am Tag zusammen, schweigt, betet und singt miteinander.
Die Psalmen werden meist in Melodien gesungen, die erstmal archaisch und fremd klingen. Man rezitiert mehrere Worte einstimmig auf einem Ton, vielleicht mit einer kleinen Variation, meistens am Ende eines Verses. Man singt die Psalmen im Wechsel. Zwischen einem Vorsänger, einer Vorsängerin und allen – oder zwischen zwei Gruppen. Erst betet und singt man selbst, und dann hört man andere singen.
Diese Weise, Psalmen zu singen, gehört zur Gregorianik, benannt nach Gregor dem Großen, einem Theologen des 6. Jahrhunderts. Seinen Namen lese ich heute im ökumenischen Kirchenkalender.
Gregorianik ist eine Singtradition, die auf das erste christliche Jahrtausend zurückgeht und wohl noch ältere Wurzeln hat. Für Martin Luther war diese Singweise noch selbstverständlich. Dem Kirchenreformator war es ein Anliegen, dass Christen Psalmen singen können. Am besten in der Muttersprache.
Psalmen gregorianisch singen, das ist eine Kunst. Man kann das nicht gleich, man braucht einen längeren Atem, man muss üben. Und Klöster, evangelische wie katholische, sind Orte, an denen diese Kunst gepflegt und eingeübt wird.
Das gregorianische Psalmensingen ist auch eine Form der Meditation. Ich höre, singe, konzentriere mich auf die Worte und Töne und lasse sie in der Stille nachklingen.
Der Herr ist mein Hirte. Mein Licht und mein Heil. Dich, Gott, suche ich. Mein Gott, warum hast du mich verlassen?
Manche Psalmworte berühren direkt meine Seele. Andere bleiben mir fremd. Und manchmal wird meine Seele einfach nur durch die ruhigen Töne angerührt, die oft tiefer dringen als die Worte. Manchmal hör ich einfach nur, lass die anderen singen, bleib auch mal bei einem Gedanken oder Bild hängen.
Die gesungenen Worte wollen mit meinem Herzen zusammenklingen. Und so ist das Psalmensingen eine Schule der Herzensbildung. Je nach Stimmung und Lebensphase gelingt es mal besser, mal weniger. Ich kenne auch, dass dem Herzen die Psalmen fremd bleiben, die Sprache, die Bilder, sie passen dann zurzeit nicht zu mir.
Mir tun die gregorianischen Psalmen gut, auch wenn das Herz nicht immer mitkommt. Ich fühl mich hineingenommen in eine große Gemeinschaft. Mein kleines, ach so wichtiges Ich schwingt plötzlich in einem größeren Atem mit, verbunden mit so vielen Menschen, deren Herz beim Beten bestimmt nicht viel stabiler war als meins. Die Psalmen lehren mich: Es geht beim Beten nicht nur um mich und meine spirituellen Bedürfnisse. Wenn ich bete und meditiere, werde ich Teil eines großen Stromes, der Zeiten und Orte, Kulturen und Konfessionen verbindet.
Wer Psalmen singt, stimmt in die Gebete von Jüdinnen und Juden ein. Denn die Psalmen sind das Gebet- und Gesangbuch der hebräischen Heiligen Schrift. „Nur wer für die Juden schreit, darf auch gregorianisch singen.“ Das sagte der evangelische Theologe Dietrich Bonhoeffer in der Zeit des Dritten Reiches, als Jüdinnen und Juden deportiert und ermordet wurden. Man kann diesen Satz auch umdrehen: Wer die Psalmen gregorianisch singt, protestiert auch gegen Antisemitismus, gegen Hass und Gewalt an Jüdinnen und Juden. Ich kann nicht Christ sein ohne die Psalmen und auch nicht ohne die jüdischen Geschwister.
Es gilt das gesprochene Wort.