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Das Gefühl für Unendlichkeit pflegen
Religion ist weder Dogma noch Moral
12.02.2025 06:35

Schon der Blick in den Morgenhimmel kann ein Gefühl von Unendlichkeit geben. 

 
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Der Flauchersteg in München. Eine Brücke aus Holz über die Isar und ihre Inseln für Fußgänger. Benannt nach dem Besitzer eines alten Wirtshauses in der Nähe, das "Zum Flaucher" heißt. Ich wohne nicht weit weg davon und komm gern hierher. In den frühen Morgenstunden. Oder auch mal am späteren Abend.

Gerade jetzt im Winter ist der Flauchersteg ein mystischer Ort, und ich bin selten allein dort. Menschen kommen vor oder nach der Arbeit hierher, zum Schweigen und Meditieren, manche machen Yoga oder andere Körpergebete, beobachten die Sonne beim Auf- und Untergehen. Manche schauen abends in den Sternenhimmel und hören dabei das Wasser der Isar rauschen.

Ich liebe diese Momente: den Blick hinauf zum Firmament, während der Fluss unter der Brücke dahinströmt. Ich fühle mich dabei gehimmelt und getragen. Die Weite des Universums über mir macht mich demütig: Wie unendlich groß und weit ist das Geheimnis des Lebens.

Ich nenne dieses Geheimnis Gott und mit der christlichen Tradition ist es für mich der Gott Jesu. Es gibt auch andere Namen, Erfahrungen, Definitionen für "Gott". Wie klein, wie hilflos sind meine Worte für das, was sie bezeichnen.

Das Universum anschauen ist die Urerfahrung von Religion. Friedrich Schleiermacher hat das geschrieben, ein evangelischer Theologe des 19. Jahrhunderts aus Berlin. Heute am 12. Februar ist sein Todestag. "Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern". Diesen anspruchsvollen Titel trägt das Buch, das er als junger Mann, gerade 30, geschrieben hat.

Verächter der Religion, das sind für Schleiermacher die, die alles von Fortschritt, Wissenschaft und Technik erwarten und meinen: Von Religion kann nichts Neues mehr kommen. Religion ist überholt und widerlegt, von der Aufklärung, Vernunft und Wissenschaft. Die Religion hat ausgedient. Und die Kirchen mit ihren Dogmen und moralischen Vorschriften sind keine Institutionen, von denen man als moderner, gebildeter Mensch noch ernsthaft etwas erwarten könnte.

Ihr irrt euch, sagt Schleiermacher. Religion ist gar nicht das Festhalten an bestimmten Lehren und Dogmen. Religion ist auch nicht Moral, das Lehren und Befolgen von Vorschriften, wie man sich verhalten soll. Das ist ein Zerrbild. Religion ist zuerst etwas ganz anderes. Nicht Denken oder Handeln, sondern Fühlen. Religion ist "Sinn und Geschmack fürs Unendliche". Anschauung des Universums, Staunen.

So wie ich den Morgenhimmel an der Isar anschaue und dabei berührt werde vom Ewigen. "Offenbarung", dieses große Wort bedeutet nicht, dass irgendwelche Wahrheiten vom Himmel fallen. Auch die Bibel kam nicht einfach aus einer Wolke herab. Offenbarung ist, wenn mir etwas aufleuchtet vom Unendlichen. Wenn das Ewige die Oberfläche des Lebens durchbricht und mir aufscheint. Das kann in einem Gottesdienst sein, in einem Konzert, in der Natur oder auf anderen Wegen. Überall kann mich eine Ahnung des Ewigen streifen.

Schleiermacher meint: Der Mensch hat eine natürliche Anlage zur Religion. Und diese sollte gebildet und gepflegt werden. Heute würden wir das Spiritualität oder geistliche Übung oder Frömmigkeit nennen. Ich kann meinen "Sinn und Geschmack fürs Unendliche" entdecken und bilden. Diese Bildung bedeutet, die Sehnsucht nach dem Unendlichen erwecken und pflegen. Auch die Sehnsucht braucht ihre Zeit und Aufmerksamkeit.

Ich schau heute Abend in den Sternenhimmel. Und ich werde in Schleiermachers Reden lesen. Denn auch beim Lesen schöner Texte spüre ich meine Sehnsucht nach dem Unendlichen. Und ich achte heute auf meine eigenen Eindrücke, Gefühle, Erfahrungen. Denn Religion ist Anschauung und Gefühl. Und das ganz persönlich.

Es gilt das gesprochene Wort

 

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