Die Sendung zum Nachlesen:
Es war vielleicht einer dieser Momente, als die Krankenschwester an sein Bett kam und ihn fragte, ob er vielleicht die Klinikseelsorgerin sprechen wolle, da ahnte er, dass es wirklich ernst ist. Die Ärzte hatten es gesagt. Und er war immerhin 92. Aber noch rüstig. Er radelte noch zum Einkaufen, er wusste im Dorf Bescheid, er kochte sich selbst, wie man bei ihm so schön sagt. Und hatte sein Tun in Haus und Garten. 92 ist doch kein Alter.
Aber nun liegt er bereits seit drei Wochen auf der Inneren. Es wird nicht besser. Der fitte junge Herr, für den er sich gern gehalten hat, muss zugeben, dass das Alter sein Tribut fordert. Ob er eine Seelsorgerin sprechen will? Klar. Sonst darf ja keiner kommen. Und die Schwestern haben keine Zeit.
Seitdem rattert es in seinem Kopf. Sonst war er in die Kirche gegangen, er hatte mitgeholfen, er war aktiv. Jetzt kommt gleich eine Seelsorgerin zu ihm. Es geht um ihn.
Als die Tür aufgeht und diese zierliche blonde Frau hereinkommt, erkennt er erst einmal nicht ihr Gesicht. Maske, beschlagene Brille.
Sie stellt sich kurz vor, geht einen Schritt zurück, um für einen Moment die Maske vom Gesicht zu ziehen, damit er ihr Lächeln sieht. Sie putzt sich die Brille, nimmt sich einen Stuhl und setzt sich. Und einen Moment ist Ruhe.
Ganz viel kreist durch seinen Kopf. Wo soll er anfangen.
Am Anfang. Pommern. Krieg. Der kalte Januar. Die Russen kommen. Mutter sagt: schnell, beeil dich. Er findet seinen Teddy nicht. Die Mutter zieht ihn fort, er weint. Teddy ist wichtig.
Ihm rollen die Tränen. Er weiß nicht, warum. Er weint nie. Jetzt kommen die Tränen und sie sind warm.
Was nur alle mit Corona haben, sagt er. Wir hatten echte Sorgen. Wir hatten nichts zu essen, es war beißend kalt. Wir haben uns über Kartoffelschalen gefreut. Wir haben Wurzeln ausgegraben. Mit der Gabel. Der Boden war steinhart.
Es ist, als hätte jemand auf den Knopf gedrückt. Alles strömt aus ihm heraus. Die Details – er kann sie fühlen. Die Eiseskälte, der Geruch, die Leichen im Straßengraben.
Alles kommt hoch. Und er redet und redet. Und sagt dann, dass er das selbst seinen Kindern noch nicht erzählt hätte. Er habe es nie für nötig gehalten, alte Kriegsgeschichten auszugraben. Jetzt kommen sie hoch. Krisenzeiten reißen Wunden auf.
Die Seelsorgerin hat Zeit. Lange hört sie still zu. Muss heute nicht zum Konfirmandenunterricht, der fällt ja aus. Muss keinen Religionsunterricht vorbereiten, weil Religion in der Schule immer als erstes unter den Tisch fällt. Also kann sie zuhören ohne Druck. Lockdown sei Dank.
Der alte Herr erzählt, wie dankbar er ist für seine Familie, seine liebe Frau, auch wenn sie viel zu früh gestorben ist, seine Kinder und Enkel. Und zwei Urenkel, sagt er stolz. Und dass sie alle nah beieinander wohnen im Dorf. Dass er ein gutes Leben hat.
Viele Einzelheiten.
Als der Arzt hereinkommt, winkt der schnell ab und sagt, er komme später wieder, die Seelsorgerin sei ja da. Das sei wichtig.
Ja, das ist wichtig, denkt er, und faltet die Hände. Ob sie mit ihm beten kann. Ja. Sie betet.
Dankt Gott für all das Gute. Für die Familie. Für den langen Weg. Und dass er ein erfülltes Leben hat.
Er hat dabei einen Kloß im Hals. Dann rollen wieder die Tränen.
Sie spricht das Vaterunser und den Segen. „Er lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig.“ Lange klingt das nach. Da ist es schon dunkel.
Wenige Tage später erfährt er, dass er wohl nicht wieder nach Hause kann. Nach Reha und alledem werde wohl ein Heim das Beste sein. Eine Woche später kommt er auf die Intensivstation. Als die Seelsorgerin wiederkommt und an sein Bett tritt, ist er gerade gestorben. Sie segnet ihn aus.
Später ruft sie die Familie an. Berichtet alles, was er erzählt hat, wie dankbar er für seine Familie ist. „Das hat er gesagt?“ „Das hat er gesagt.“ „Och – das ist aber schön.“ Beisetzung im kleinen Kreis. Nachbarn kommen und stellen sich an die Gräber ihrer Familien – also auf Abstand, das ist ja erlaubt. Geben ihm das letzte Geleit.
Am Ende der Segen. „Er erhebe sein Angesicht auf dich und schenke dir Frieden. Amen.“
Es gilt das gesprochene Wort.