Ein Israeli und ein Palästinenser. Beide Väter, die ein Kind verloren haben. Getötet von den Landsleuten des jeweils anderen. Trotzdem trauern sie gemeinsam.
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Viele Zugvögel ziehen in diesen Tagen ihre Bahnen. Ein Tanz am Himmel, nach eigener ewig gleichbleibender Choreografie. Ein großes V, Schlangenlinien. Das liebe ich am Herbst. Ich schaue ihnen so gerne nach. Woher nehmen sie die Weisheit für ihre Formationen am Himmel? Die zweitgrößte Flugroute der Welt geht über Israel und Palästina. 500 Millionen Vögel ziehen jedes Jahr über Bait Dschala nahe Jerusalem durch die Lüfte. Und tanzen ihren einmalig schönen Weisheitstanz am Himmel. Und unten auf der Erde, die Menschen? Zerstörung, Tod, Hass und kein Ende. Ob die Zugvögel dort auch jetzt fliegen?
Im September vor zwei Jahren, kurz bevor am 7. Oktober die Hamas-Terroristen Jüdinnen und Juden auf grausamste Weise getötet und viele als Geiseln verschleppt haben, war ich bei einer Lesung in München. Ich habe zwei Männern zugehört, die auf Deutschlandtour waren mit ihrer Geschichte. Bassam Aramin und Rami Elhanan. Ein palästinensischer Araber und ein israelischer Jude.
Was sie verbindet? Sie beide wollten Menschen töten, die sie nicht kennen. So erzählen sie es an diesem Abend in München. Bassam ist schon mit 17 ins Gefängnis gekommen, weil er gegen die israelische Besatzungsmacht Molotowcocktails geworfen hat. Aber im Gefängnis wendet er sich ab von Gewalt. Eine 180 Grad-Wende. Er gründet zusammen mit Rami und anderen die "Combattants for peace". Kämpfer für den Frieden. Ihr Ziel: Feindbilder überwinden. Das gemeinsame Menschliche entdecken. Die Geschichten der Gegenseite kennenlernen.
Und dann haben Bassam und Rami noch etwas gemeinsam. Sie sind beide Väter. Sie werden Mitglieder im Parents Circle, im Elternkreis. Hier kommen Eltern zusammen von allen Seiten des israelisch-palästinensischen Konflikts. Juden, Palästinenser, Christen, Muslime. 600 Familien sind es heute etwa. Sie haben alle ein Kind oder mehrere Angehörige verloren in den Kämpfen der Region. Durch die Gewalt von der anderen Seite.
Sie treffen sich, um einander zuzuhören. Sie weinen miteinander.
Und sie gehen zu zweit, immer einer von jeder Seite, um die Botschaft der Versöhnung zu verbreiten. Sie halten Vorträge. Gehen in Schulen. Erzählen die Geschichte ihrer Kinder und die Geschichte der Gewalt, die sie aus dem Leben gerissen hat. So wie Rami und Bassam an diesem Abend.
Rami erzählt von Smadar. Der Name bedeutet "Weinrebe", "aufgehende Blüte". "Meine Prinzessin" nennt Rami sie an diesem Abend. Sie ist nur 14 Jahre alt geworden. An einem Freitagnachmittag geht sie in die Jerusalemer Innenstadt shoppen mit ihrer Freundin. Und meldet sich zum Jazztanz an. Plötzlich sprengen sich drei junge Araber in die Luft und reißen Smadar mit in den Tod.
Bassam erzählt von Abir, "Das Parfüm", "Der Duft der Blüte". Bassams Tochter ist gerade mal zehn Jahre alt geworden. Sie wird von einem israelischen Grenzpolizisten mit einem Gummigeschoß am Hinterkopf getroffen. In der Schulpause, als sie sich aus dem Laden gegenüber ein grünrosagelbrotes Zuckerarmband gekauft hat. Auf dem Rückweg kurz vor dem Schultor trifft sie der Schuss.
Rami und Bassam erzählen, wie sie selbst danach gelitten haben. Der Hass, die Wut, die Trauer haben sie fast erstickt. Das alles hören wir bei dieser Lesung, und es zerreißt mir das Herz. Und doch habe ich etwas so unumwunden Gutes, Schönes schon lange nicht mehr gehört. Die beiden trauernden Väter zeigen, wie aus Gewalt Freundschaft entstehen kann. Das ist Weisheit. Den Zugvögeln gleich alle trennenden Grenzen überwinden und frei sein.