Morgenandacht
Asyl in der Bibel
29.07.2015 06:35

Die Kommunen sind überfordert. Es fehlt an Unterkünften. Auf diesen Flüchtlingsstrom war man doch nicht vorbereitet. Holterdipolter werden größere Heime in kleinen Dörfern eingerichtet oder Container am Rand von Problemkiezen aufgestellt. Und regelmäßig gibt es Ärger mit den Anwohnern, die sich übergangen fühlen. Es scheint fast so, als könne es gar nicht anders sein. Als müssten Flüchtlinge eine Zumutung sein, die sich nicht ohne Aufruhr bewältigen lässt.

 

Auf diesem Hintergrund staune ich über die Weisheit im biblischen Israel. Als das Volk der Bibel sesshaft wurde, vor etwa 3000 Jahren, gab es sich Regeln, um das Zusammenleben in Stadt und Land sozial verträglich zu gestalten. Von diesem großen Gesetzeswerk kennt man meistens nur die zehn Gebote. Die vielen Einzelbestimmungen, die sich im 3. und 4. Buch Mose finden, sind ja auch mühsam zu lesen.

 

Aber manchmal doch spannend, wenn es da etwa heißt: In dem kleinen Land solle es nicht weniger als sechs Asylstädte geben, rechts und links des Jordan, damit unschuldig Verfolgte sicher und schnell Schutz fänden. So steht es im 4. Buch Mose als Gottes Gebot. (4. Mose 35,9f.[1])

 

Die jüdischen Rechtsgelehrten haben sich eine Menge Gedanken darüber gemacht, wie so eine Asylstadt denn auszusehen habe. Im Talmud wird ausgeführt: Nicht zu klein dürfen die Städte sein und nicht zu groß. Eine gute Lebensqualität wird vorausgesetzt: Genug Wasser für alle – damals keine Selbstverständlichkeit. Einen Marktplatz muss es geben, genug Einwohner, damit die Asylsuchenden nicht auffallen, genug Wirtschaft, damit sie Arbeit finden. Und eine Schule, denn das Lernen darf keinem Menschen verweigert werden. Nur eine Beschränkung wird den biblischen Asylstädten auferlegt: Es darf in ihnen nicht mit Waffen gehandelt werden, es müssen gewaltfreie Städte sein.[2]

 

Man fragt sich, warum so ein kleines Land wie das biblische Israel solchen Aufwand ums Asyl treibt. So viele unschuldig Verfolgte kann es damals doch gar nicht gegeben haben.

 

Aber wahrscheinlich ging es auch gar nicht nur um den Bedarf. Es ging vielmehr um das, was wir heute "unsere Werte" nennen.

 

Es war dem Volk der Bibel wohl bewusst, dass sesshafte Menschen dazu neigen, Gott zu vergessen. Zumal in den Städten, wo sie beim Handel miteinander in eine gnadenlose Konkurrenz treten, wo die Reichen sich abschotten und die Armen anonym bleiben. In der Stadt geht die Gottesbeziehung oft verloren – so die Erfahrung, und dagegen wollte man mit den Asylstädten ein Zeichen setzen: Es sollte in der komplizierter werdenden Gesellschaft wenigstens einige gnädige, menschenfreundliche Orte geben – Orte, in denen Gottes Gegenwart spürbar blieb.

 

So dachte man in jener längst vergangenen archaischen Zeit. Ziemlich vernünftig, finde ich. Könnten sich nicht auch human gesonnene, säkulare Menschen von heute mit so einem Konzept anfreunden?

 

Es wäre dann nicht so, dass uns die Bedrängten und Verfolgten wie ein gänzlich unerwartetes Problem ins Land fielen. Eine wohlhabende, sesshafte Gesellschaft wüsste es einfach: Es wird sie immer wieder geben, die Andern, die Verfolgten, die Schutz suchen. Man würde Vorsorge treffen in mittelgroßen Städten, die gut ausgestattet sind mit Industrie und Schulen und einer Einwohnerschaft, die stolz darauf ist, in einer friedlichen Asylstadt zu leben.

 

Denkbar wäre es doch, die gesamte Europäische Gemeinschaft würde sich auf ein großes Netz von Asylstädten einigen. Man würde diese Städte ehren, wie man jetzt die Kulturhauptstädte ehrt. Sie würden uns als europäische Wertegemeinschaft vereinen. Wir könnten stolz darauf sein.

 

[1]              vgl. Josua 20, 7 -8

[2]              Nach F.W. Marquardt, Eia, wär'n wir da – eine theologische Utopie, Kaiser, Gütersloh 1997, S. 173