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Manuela Fuelle:
Ja, ist alphabetisch geordnet. Und wird zum Teil chronologisch gelesen.
Ich bin zu Besuch bei der Schriftstellerin Manuela Fuelle in Freiburg. Wir sitzen in ihrer Bibliothek, die überhaupt nicht wirkt, wie man sich die Umgebung einer Künstlerin womöglich vorstellt: chaotisch und durcheinandergewürfelt, nein! Die Bibliothek ist sehr gepflegt. Und ordentlich wirkt auch, wie sie sich dem Inhalt der Bücher nähert.
Manuela Fuelle:
Manchmal lese ich auch einen Roman von einem Schriftsteller. Und dann, wenn mich die Sache gepackt hat, sage ich: So, der wird jetzt chronologisch gelesen. Wie baut das auf? Wie ist seine Geschichte? Das ist ja seine Geistesgeschichte, seine Lebensgeschichte ist ja auch seine Geistesgeschichte. Und das finde ich unglaublich spannend, wenn man das auch von dieser Seite verfolgt. Und ja, insofern ist da Ordnung in der Literatur.
Diese ordentlich lesende Autorin habe ich aufgesucht, weil mich Menschen anziehen, die gerade nicht ganz nach der Ordnung leben. Genau so wirken die Helden in Fuelles Romanen. Sie ecken an, sind unverwechselbar, verblüffen mich. Ihr leiser Witz wirkt wie eine Lösung, so dass etwas in mir ins Fließen kommt, gerade weil sie nicht perfekt durchs Leben sausen.
So feiert die Heldin des aktuellen Romans „Luftbad Oberspree“ die Verspätung eines Zuges schon mal als Fest. Der Bruch der Brille löst ein Welle der Erleichterung aus, weil sich im Kalender die Termine des Tages wie von selbst durchstreichen. Und während eines Cafébesuches erwägt die Hauptfigur in einem unaufhörlich wirkenden Pro und Contra, was die für diesen Ort und Augenblick beste Bestellung sein könnte: eine Tasse Kaffee oder ein Cappuccino. Um die Bestellung dann, als sie aufgegeben ist, am liebsten noch einmal widerrufen zu wollen.
Manuela Fuelle:
Amos Oz hat gesagt neulich, als er sein Judasbuch vorstellte: Die Helden des Autors können nicht witziger sein als der Autor. Dem widerspreche ich jetzt: Wenn es um Originalität geht: Meine Helden sind origineller als ich.
Aber vollkommen durchschnittlich ist die Autorin nun nicht gerade. Fast einzigartig dürfte ihr Doppelleben sein. Manuela Fuelle arbeitet nicht nur als anerkannte Schriftstellerin, die gerade erst vor wenigen Wochen den mit 10.000 Euro dotierten Thaddäus-Troll-Preis erhalten hat. Überdies ist sie Theologin, arbeitet in einer Freiburger Gemeinde als Diakonin. Sie organisiert Kinderbibeltage, macht Besuche in Altenheimen und unterrichtet in der Grundschule Kinder in Religion.
Manuela Fuelle:
Es ist mir wichtig, dass sie in jeder Stunde nicht nur etwas lernen über, sondern dass sie auch dazu kommen, eigene Erfahrungen zu formulieren, auch erzählen: Ha! Ist euch Gott schon mal begegnet? Die geben wirklich Antworten, ja ich habe ganz wache Schüler, zum Teil, nicht alle. Nie alle Menschen sind gleich wach, aber neulich, da war einer, der sagte: Ihm ist Gott schon mal begegnet. Dann hat er das erzählt, wie es stattgefunden hat. Es war eine Rückfahrt vom Urlaub, wo er beeindruckt war. Das war, glaube ich, auch mit einem Naturerlebnis verbunden, aber: da ist ihm Gott begegnet.
Manuela Fuelle ist 1963 in Ost-Berlin geboren, aufgewachsen ohne Glauben, aber inmitten von Geschichten. Erzogen wurde sie mit ihren Schwestern allein vom Vater, der bis heute die merkwürdigsten Geschichten erzählt und in ihrem ersten Roman „Fenster auf, Fenster zu“ eine tragende Rolle spielt.
Manuela Fuelle:
Wir sind alle, ich würde schon sagen, starke Individualisten, sind alle unseren ganz eigenen Weg gegangen, schon damals im Osten, haben uns völlig abgegrenzt. Und waren auch in der Siedlung die Ausnahmefamilie – in der ganzen Siedlung, in der ich aufgewachsen bin. Das war nicht immer angenehm. Das war… Anders zu sein, ist nicht angenehm für den, der anders ist.
Das Brüchige, Chaotische und Zerrissene blendet die Autorin nicht aus. Deswegen hat ihr Erzählen Tiefe. Sie versteht ihr Schreiben als eine Form der Notwehr. Und der Humor wird zu einem Lebensmittel.
Manuela Fuelle:
Mich greift oft auch vieles an: Dummheit. Oder Gewalttätigkeit. Was eben nicht stimmt in der Welt oder in Verhältnissen. Kommunikationsunfähigkeit. Lieblosigkeit, das greift an. Wir bemerken es: Und – was macht man jetzt damit? Und manchmal machen mich diese Erlebnisse oder Ereignisse so traurig, dass ich mich faktisch durch Humor schon wieder retten muss. Also am Ende ist man so traurig, dass man laut lachen muss.
Manuela Fuelle schreibt gegen die Lieblosigkeit an, deren Herrschaftsanspruch sie unterwandert mithilfe ihrer unverwechselbaren, oft absurden Komik. Aber anderen raten, originell zu sein, das kann sie nicht.
Manuela Fuelle:
Gehör doch nicht zur Gruppe! Kann man niemandem empfehlen. Wir waren eben keine Gruppenmenschen. Selbst wenn man es versucht hat, man ist immer rausgeflogen. Ich habe mich auch in der ersten Ausbildung, als ich Kirche kennenlernte, sehr schwer getan. Weil man mir immer klar gemacht hat: „Der Individualist ist hier nicht willkommen. Du musst schon sein wie wir.“ Im Grunde sind wir sehr freiheitsorientiert selbst im Osten aufgewachsen. Der Weg zur Kirche lief ja auch über Freiheitsbedürfnis, sich gegen den Staat zu wenden, Nischen zu finden, wo man offen reden konnte. Aber das kirchliche Leben fordert schon viel Anpassung, dass wir da so eine Gleichmacherei haben, die dann dadurch, dass am Ende alle Gleiches sagen und denken, zu extremer Langeweile führt. Und zu einer Leere auch.
Ihre ersten Kirchenerfahrungen waren anders. Mit 18 war sie das erste Mal in einem Gottesdienst. Damals langweilte sie sich mit ihren Schwestern in der Disco, suchte einen neuen Freundeskreis. Und dann ging es immer häufiger in die Junge Gemeinde.
Manuela Fuelle:
Das waren jetzt alle ganz junge Menschen. Wir mittendrin. Wir haben uns erst einmal richtig fast in so eine Hippiebewegung begeben, wir haben ein Haus auf dem Land gekauft, wir wollten eine Kommune gründen, den Staat im Staate. Wir wollten uns unabhängig machen. Die ersten Demonstrationen im Osten, ich war dabei, gehörte dann zur Friedensbewegung. Eine ganz spannende Sache! Also wir haben da gleichzeitig eben auch viel gelesen immer, uns ausgetauscht. Wir hatten eine geheime Bibliothek aufgebaut, haben Bücher, die es bei uns nicht zu kaufen gab, besorgt aus dem Westen. Wenn ein Buch aus dem Westen ankam, haben es dann zehn Leute gelesen, das ging dann von Hand zu Hand. Das hat alles einen ganz großen Zusammenhalt geschaffen.
Dass man da ständig gestört wird von anderen, die mithören und mitschreiben und ausliefern, das war natürlich die andere Seite dieses Systems. Wir waren natürlich Systemgegner, System war schlecht, und ich bin froh, dass alles vorbei ist schon lange. Aber was wir als Jugendliche dort erlebt haben, und wie die Kirchenerfahrungen, die ersten, waren, das waren sehr gute Erfahrungen.
So lässt sie sich zur Gemeindediakonin in Greifswald ausbilden, studiert danach Theologie in Greifswald und Berlin, später dann Literarisches Schreiben in Tübingen. Es folgen erste Veröffentlichungen, Stipendien, Romane, der Erfolg als Schriftstellerin. In der Kirche jedoch arbeitet sie weiterhin mit Überzeugung.
Manuela Fuelle:
Ich bin sehr dankbar, dass ich diese Erfahrung von Kirche machen durfte. Insofern hat Kirche auch immer was gut, wenn ich sie so nicht mehr antreffe: Nur noch als Verein, wo klar wird, also hier ist es jetzt schon auch bald beliebig, so eine Beliebigkeit kommt, dann bin ich immer sehr dankbar, dass meine ersten Kirchenerfahrungen so herausragend waren. Ich meine damit nicht nur, dass Kirche sich politisch äußern muss, sondern dass sie – na ja, dass sie wirklich ein Lebensraum ist.
In diesem Lebensraum sind Querdenker willkommen. Menschen werden nicht gegängelt oder belehrt, sondern geachtet und beachtet. Es darf etwas probiert werden, Neues wird versucht, ohne dass gleich jemand zurückgepfiffen oder auf Linie gebracht wird.
Während Manuela Fuelle von ihrer Freude an originellen Menschen erzählt, spüre ich, wie sich in mir etwas weitet. Ich fühle mich in ihrer ordentlichen Bibliothek mit meinem nicht immer regelgerecht absolvierten Lauf durchs Lebens aufgehoben. Und muss an einen Satz des Vaters aus ihrem ersten Roman denken: „Man muss nichts zwingen, biegen, brechen oder beschneiden.“ Das Kraut soll schießen dürfen!
Dabei denkt die Autorin jedoch nicht an ein Laissez-faire, an das Recht des Stärkeren, die Machtwillkür der Egomanen. Die Kraft des Glaubens kommt stattdessen wieder ins Fließen dank der Verwundeten, der vermeintlich Schwachen. Sie sorgen mit ihrer Stärke und Originalität dafür, dass es nie zu eng und stickig wird.
Manuela Fuelle:
Ich gehe auch sehr gern spazieren. Hier im Schwarzwald kann man ja gut wandern. Wir haben ja die Möglichkeiten, wir sind ja in zehn Minuten im Wald, kann man loslaufen, durchatmen. Das erfrischt den ganzen Körper und den Geist. Ich mag das zum Beispiel auch, wenn man jetzt lange läuft. Also ich bin ja eher ein Langläufer, nicht der schnelle Gipfel. Manche, die sind ja solche Gipfelstürmer: Anstrengung und möglichst schnell nach oben und dann durchatmen! Bei mir ist es eher so: Ich mag die langen Strecken und: Atmen – und dann aber in einen Fluss kommen. Das ist auch schon wieder ein gedanklicher Fluss oder ein Gespräch ist dann möglich. Ich mag dann auch lieber diese Ebenen, das ist hier jetzt natürlich bergig. Aber man muss ja nicht immer gleich auf den Gipfel stürmen, man kann auch hier viel Hügel erlaufen – das mag ich, dieses lange Laufen. Oder an der Dreisam entlang und dann in einen Gedankenfluss kommen dadurch.
Ich bin auch immer im Gespräch mit Gott. Dass sich das so ergeben hat, ist für mich ein Geschenk: Religiosität. Dass man sich um ein gutes Gottesverhältnis bemüht oder er das einfach erhält. Es ist keine Selbstverständlichkeit. Bei mir hat es sich ergeben, einfach dass ich im Gespräch bin – mit Gott. Ich höre auch zu. Ich lasse los. Ich bete auch mit Wünschen, dann lasse ich wieder los und versuche irgendwie – sagen wir mal – Gott in allem zu finden, wieder zu entdecken.
Romane von Manuela Fuelle:
Fenster auf, Fenster zu, Roman, Klöpfer & Meyer, Tübingen 2011.
Luftbad Oberspree, Derk Janßen Verlag, Freiburg im Breisgau 2016.
Musik dieser Sendung:
- John Williams, The Guitar master. Prélude der Suite in E-Dur für Laute, BWV 1006
- Ricercar No 73, Christopher Wilson, Francesco Canova Da Milano