Morgenandacht
Reliquien
09.07.2019 06:35
Sendung zum Nachlesen

Wenn ich verreise, möchte ich unbedingt etwas von diesen Abenteuern aufbewahren. Leider gehen diese Urlaubs-Abenteuer immer so schnell zu Ende. Deshalb möchte ich die Erinnerung daran gerne mit nach Hause bringen und irgendwie konservieren, damit ich mich jederzeit wieder an das Erlebte erinnern kann. Von Reisen in ferne Länder und alte Kulturen bringe ich gern kleine Skulpturen oder andere antike Gegenstände mit nach Hause. Die werden dann in eine Vitrine gestellt, fast wie in einem eigenen kleinen Museum. Geht meine Reise in die Natur, an den Strand oder in die Berge, ist es mitunter nur ein Stein, den ich auf dem Weg aufgelesen habe, oder ein bisschen Sand, in ein Glas abgefüllt. Ich freue mich dann, etwas von dem wunderbaren Strandsand von Langeoog durch die Hände rieseln zu lassen. Diese Gepflogenheit, Steine, getrocknete Blüten oder was auch immer als Erinnerung mitzunehmen, erinnert mich an die Tradition der Reliquien im Christentum.

Begonnen hatte diese Tradition mit den ersten Pilgerreisen, die fromme Menschen auf den Weg nach Jerusalem brachten. Manche wollten damit an die Quelle ihres Glaubens kommen, andere gingen den Weg als Bußgang für irgendein Vergehen. Sie mussten ihre Heimat verlassen und wurden, so glaubten sie, durch den beschwerlichen Bußgang geläutert.

Der Anfang dieser Pilgerreisen lässt sich sogar recht genau datieren. Im 4. Jahrhundert, nachdem Kaiser Konstantin das Christentum zur erlaubten Religion erklärt hatte, reiste seine Mutter Helena sofort nach Jerusalem. Sie wollte die Stätten der biblischen Geschichten persönlich in Augenschein nehmen. Von ihr wird erzählt, dass sie einen kleinen Holzsplitter vom Kreuz Christi gefunden haben soll. Ihr folgten dann unzählige Menschen, die sich ebenfalls auf den beschwerlichen Weg machten. Und sie alle brachten etwas mit, irgendeinen Gegenstand, ein Stein, ein Stück Holz, eine Figur – als Erinnerung an die Pilgerreise.

Ist das schlimm, so etwas zu sammeln? Gerade wir Protestanten tun uns ja eher schwer damit. Man weiß, wie ironisch Martin Luther über Reliquien gesprochen hat, und wie sehr er sich über den Handel mit den meistens gefälschten Reliquien aufregen konnte. Zum Teil kann ich Luthers Empörung auch verstehen. Es ist abwegig, sich vom Kauf oder vom bloßen Anschauen einer Reliquie den Erlass eigener Sünden zu versprechen. Und damit Geschäfte zu machen ist sogar schäbig. Genau das wurde damals mit den Reliquien gemacht und war Ursache für Luthers Empörung.

Aber das Bedürfnis, etwas aufzubewahren, um sich an eine Person oder an ein Erlebnis besser erinnern zu können, das halte ich für wertvoll. Gerade der Glaube, der sowieso schon so abstrakt ist, kann es gut vertragen, sozusagen handfeste, sinnliche Unterstützung zu bekommen. Und so ist meine persönliche Reliquiensammlung gewachsen: Da findet sich zwar kein Splitter vom Kreuz Christi, aber doch ein kleines Stück Olivenholz aus Bethlehem, ein Stein vom Ölberg, ein Glas mit Wasser aus dem Jordan und vieles mehr, was mir nicht minder wichtig ist. Alles selbst gesammelt, alles mit eigenen Erinnerungen verbunden, und mit den existenziellen Fragen, auf die ich bei diesen Reisen Antworten gesucht habe.

Das Wort Reliquie bedeutet „übriggeblieben“. Und es sind eben nicht nur die Dinge – übriggeblieben sind mir diese gesammelten Erinnerungen. An Menschen, an Begegnungen und an viele Gespräche, die ich über den Glauben und mein Leben geführt habe. Natürlich muss solche Art von Reliquie nicht unbedingt auf Reisen gesammelt werden. Das geht immer und überall. Manche stellen sich Bilder ins Regal, die einst von den Kindern gemalt worden sind, Fotos von den Lieben, oder scheinbar belanglose Gegenstände, mit denen doch ganz wichtige Erinnerungen verbunden sind.

Glauben, hat der Theologe Paul Tillich einmal gesagt, kann man auch verstehen als das Festhalten an dem, was mir ganz wichtig ist, was mich packt und aus der Alltagswelt herausreißt. Genau das tun diese persönlichen Reliquien, sie halten Erinnerungen wach, die mich unbedingt angehen.

 

Es gilt das gesprochene Wort.