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Es ist Pfingstsonntag. Ein warmer Abend. Nicht alle sitzen in den Biergärten oder vorm Fernseher. Etliche haben sich in der großen Kirche in Berlin-Lankwitz eingefunden zu einem Bibelerzählabend, der hier schon zum fünften Mal stattfindet. Zu hören bekommen sie eine hochsommerliche Liebesgeschichte. Es ist der Gutsbesitzer Boas, der bei der Gerstenernte sein Herz an eine schöne Fremde verliert. Keine standesgemäße Frau. Sie gehört vielmehr zu den Armen, die hinter den Schnittern herlaufen, um übrig gebliebene Körner aufzusammeln:
Simone Merkel:
Jeden Tag kommt Boas zum Feld. Er schaut, wie die Arbeit vorangeht und dieses Mal kommt er früher als sonst und er bleibt auch länger auch sonst, er bleibt länger als üblich und er bleibt sogar länger als nötig. Die Knechte haben‘s längst bemerkt und auch den Mägden ist es nicht entgangen: Sie kichern und sie sagen: So viel hat er sich noch nie für die Ernte interessiert…
Nein, Ruth ist es, für die sich Boas interessiert – die Ruth, von der Bibelkenner wissen, dass sie ihre Heimat verlassen hat, um für ihre Schwiegermutter da zu sein, nachdem da keine Männer mehr sind, die sich um sie kümmern können – die Ruth, die dann tatsächlich in Boas einen neuen Mann findet und zu einer Stammmutter Israels wird. Nur wie das wirklich zugegangen ist, beschreibt die Bibel eher spröde. Obwohl sie an anderer Stelle doch auch die Liebe zu besingen weiß – und das hat die Phantasie der Erzählerin Simone Merkel herausgefordert:
Simone Merkel:
Die Frage, die mich getrieben hat, war: Kann man eigentlich das Hohe Lied der Liebe erzählen? Und es hat mich gereizt zu schauen, ob es ne Liebesgeschichte in der Bibel gibt – und da war für mich völlig klar: Ruth und Boas könnten es sein. Und ich wollte gerne den Boas nicht als fetten, alten Gutsbesitzer sehen. Ich wollte ihn als jungen Mann sehen, der etwas sucht und ja. Und findet.
Und es gelingt ihr, die Zuhörenden zu bezaubern – wenn sie da vor ihnen steht, zierlich, aufrecht und mit blitzenden Augen erzählt, wie sich die beiden schließlich finden:
Simone Merkel:
Um Mitternacht ist es, als sie barfüßig den Weg am abgeernten Feld entlangläuft bis zur Scheune. Als sie die Scheune erreicht hat, sieht sie sich noch einmal um – und dann schlüpft sie hinein durchs Tor hinauf auf die Tenne. Sie löst ihr Gewand und sie deckt den Platz zu seinen Füßen auf und legt sich zu ihm. "Du hast mir mein Herz genommen mit einem einzigen Blick deiner Augen. Du hast mir mein Herz genommen mit einer einzigen Kette deines Halses. Du hast mir mein Herz genommen, meine Ruth, meine Freundin, meine Schwester…".
Ja, so steht es im Hohen Lied der Liebe – und bekommt einen neuen Klang, wenn es als eine veritable Liebesgeschichte erzählt wird. Lebhaft ist das Gespräch hinterher in der Pause – man merkt, er hat sich gelohnt, der Abend in der Kirche:
"Die hat det so schön vorjetragen, dass mir direkt die Tränen gekommen sind – also, sehr, sehr schön hat die das gemacht – von der Liebe."
"Ich fand, dieses Freie, das fand ich wirklich gut, und zwar das freie Erzählen ohne Manuskript, die Erzählerinnen, die strahlen was Freies aus und das überträgt sich auch so‘n bisschen."
So ist es jedes Mal, sagt Christian Popp, der Pfarrer, der zu den Bibelerzählabenden einlädt – die alten biblischen Geschichten fangen wieder an zu leuchten, wenn sie mit Einfühlung und Phantasie neu erzählt werden:
Christian Popp:
Eigentlich reagieren fast alle so: Wann ist es das nächste Mal? Und: Das ist aber schön! Und so hab ich die Geschichte noch nie gehört. Also, es gibt ne große Freude an der Veranstaltung und an den biblischen Geschichten, die gehört worden sind.
Simone Merkel:
Meine Begeisterung hat tatsächlich damit angefangen, dass ich als Kind eine Frau kannte, die großartig erzählt hat und der ich einfach gern zugehört hab – und die hat alles Mögliche erzählt, die hat wunderbare Phantasiegeschichten erzählt und auch Bibelgeschichten und alles durcheinander – ich hab an ihren Lippen gehangen und irgendwie wusste ich als Kind: Ich möchte gerne mal erzählen. Und erst viel später ist für mich dazu gekommen, dass ich Fragen und Antworten aufs Leben – also große Bilder einfach, große Symbole, großartige Sprache in den Bibelgeschichten gefunden hab.
Simone Merkel hat sich einen Beruf ausgesucht, in dem das Erzählen eine große Rolle spielt. Sie ist Religionspädagogin geworden. Aber das reichte ihr dann nicht mehr. Sie wollte die biblischen Geschichten auch für Erwachsene erzählen, denn für Erwachsene sind sie ja bestimmt:
Simone Merkel:
Was die Geschichten möglich machen: Sie bieten uns Figuren und sie bieten uns Orte, sie bieten uns Menschen an, die Erfahrungen in ihrem Leben gemacht haben, die sie mit Gott in Verbindung bringen und von diesen Menschen und von diesen Erfahrungen können wir erzählen und können dabei Gott suchen. Und ich glaube, er lässt sich finden in den Geschichten.
Doch guckt die Erzählerin nicht zuerst auf die Theologie, die sich mit der biblischen Geschichte verbindet. Sie lässt sich auf das Erleben der Figuren ein – und da darf wie im richtigen Leben auch Manches offen bleiben.
Simone Merkel:
Das Besondere des Erzählens ist, dass ich als Erzählerin keine Antwort habe, sondern gemeinsam mit meinen Hörern und mit den Figuren der Geschichte auf der Suche bin. Und die Hörer müssen vielleicht mit mehr Fragen nach Hause gehen als sie gekommen sind. Vielleicht finden sie aber auch in der Geschichte Antworten und es kann gut sein, dass einer eine andere Antwort findet als n anderer Hörer – obwohl beide dieselbe Geschichte gehört haben.
Und auch diejenigen, die die Geschichte schon kennen, sagen dann am Ende: So habe ich sie noch nie gehört. Denn Simone Merkel ist keine bloße Nacherzählerin. Sie sucht vielmehr ihren eigenen Zugang zum Text – und geht dabei auch mit ihre eigenen Fragen um:
Simone Merkel:
Gibt es in der Geschichte etwas, was mich umtreibt, was mich trifft, was mich bewegt, was mich aufregt und irre macht vielleicht sogar – wenn es das gibt und ich mit dieser Geschichte ringen muss und suchen muss und meinen eigenen Weg in der Geschichte und mit den Figuren suchen muss und dann eigene Worte finde – ich glaube, dann wird‘s meine Erzählung.
Und wenn die Geschichte in ihr durch alle Fragen und Irritationen hindurch Gestalt angenommen hat, steht sie dann da – ohne Pult und ohne Zettel, ohne Requisiten und ohne Bühnenbild – und traut sich:
Simone Merkel:
Frei zu sprechen und präsent zu sein – sich zu stellen mit der eigenen Geschichte und mit den eigenen Fragen, die man an Gott hat, sich einem Publikum zu stellen und zu wagen, diese Fragen, die man hat ans Leben und an Gott, auch auszusprechen.
So etwas erlebt man ja nicht oft. Schon darum sind die Bibelerzählabende etwas Besonderes. Aber in der Hauptsache geht‘s gar nicht darum, die Kunst der Bibelerzählerin zu bewundern. Simone Merkel weiß: Die Zuhörenden machen mit:
Simone Merkel:
Ich glaube, die Zuhörer merken sofort, dass Erzählen kein Monolog, sondern ein Dialog ist. Sie merken ziemlich schnell, dass es zum einen um die Worte geht, die gesprochen werden, aber vor allen Dingen merken sie, dass sie eigene Bilder haben, dass sie ihre eigenen inneren Bilder entwickeln können und ihren eigenen Film sehen, der sich in ihrem eigenen Phantasieraum entwickelt – und ich glaube, dass die Menschen dankbar sind und dass sie erstaunt darüber sind, dass sie gar nicht fremde Bilder brauchen, sondern eigene haben.
Hanna Roeder:
Am Erzählen fasziniert mich, wie man Bibelgeschichten in eine Form bringen kann, dass ich glaube, viele, viele Menschen n guten Zugang dazu bekommen können – also, man ist als Zuhörer mehr dabei, man hat fast das Gefühl , man ist Teil von dem, was passiert – und natürlich als diejenige, die erzählt, sowieso...
Hanna Roeder gehört zu den zwölf jungen Frauen, die sich in diesem Sommer von Simone Merkel zur Bibelerzählerin ausbilden lassen. Die Ausbildung gibt es schon seit einigen Jahren - denn inzwischen haben viele Kirchengemeinden entdeckt: Das Erzählen bringt die biblischen Geschichten in die Gegenwart und die Zuhörenden zusammen. Und gutes Erzählen will gelernt sein:
Hanna Roeder:
Es ist vielleicht son bisschen wie beim Zeichnenlernen, da kann man ja auch bestimmte Techniken lernen. Und auch beim Erzählen kann man ja bestimmte Techniken lernen und Tricks und Kniffs und die bekommt man in der Fortbildung sehr, sehr gut beigebracht.
Wie man eine Geschichte spannend aufbaut, wie man überhaupt ins Reden kommt, mit der eigenen Stimme umgeht – das kann man lernen, sagt Simone Merkel:
Simone Merkel:
Also die Frage, wie baut man Sätze, wie arbeitet man mit Pausen, wo hebt man die Stimme, wo gibt es wörtliche Rede, wo wird einfach in der dritten Person erzählt, welche Perspektive wählt man – also es gibt tatsächlich so‘n Handwerkszeug, was man erlernen kann und was man sich aneignen kann, mit dem man rumprobieren kann und gucken kann, wie sehr es zu einem selber passt und wie sehr es aber auch zu der Geschichte passt.
Aber was auch geübt sein will, ist der tiefe Blick in die Geschichten – die Lust, sich auf die Figuren einzulassen, auch wenn sie wie Boas in der biblischen Geschichte von Ruth scheinbar nur eine Nebenrolle spielen. Gemeinsam dem nachzuspüren, was zwischen den Zeilen steht, sagt die Bibelerzählerin, ist das Schönste an der Ausbildung:
Simone Merkel:
Ich finde es einfach großartig, mit Menschen gemeinsam in den Geschichten Entdeckungen zu machen und mit ihnen gemeinsam zu staunen, was darin zu finden ist und wie sie zur Sprache zu bringen sind und ich leite gerne die andern an und zeige ihnen gern, was ich für mich entdeckt habe und bin ganz begeistert, dann mit ihnen gemeinsam zu lernen. Das macht mir unheimlich Spaß.
Vielleicht, dass er überhaupt wieder kommt – der Spaß an den eigenen, inneren Bildern, die von alten Geschichten geweckt werden, der Spaß am Erzählen und Zuhören und an der unmittelbaren Gemeinschaft, die dabei entsteht:
Simone Merkel:
Ich finde, die Kunst des freien Erzählens ist kein Kinderkram. Es gibt ja durchaus Traditionen, in denen das mündliche Weitergeben von Geschichten als ganz große Kunst auch wertgeschätzt wird und ich finde, es ist eine große Kunst und auch uns Erwachsenen tut es gut, von Mund zu Mund so dicht beieinander zu sein – nicht getrennt durch irgendwelche Medien oder so.
Es gilt das gesprochene Wort.
Musik dieser Sendung:
(1) Fantasia 11 in C Major, Allegro, Dorothee Oberlinger, Telemann – 12 Fantasias
(2) Fantasia 11 in C Major, Vivace, Dorothee Oberlinger, Telemann – 12 Fantasias
(3) Fantasia 8 in E Minor, Allegro, Dorothee Oberlinger, Telemann – 12 Fantasias