Der Mond ist aufgegangen,
die goldnen Sternlein prangen
am Himmel hell und klar.
Der Wald steht schwarz und schweiget,
und aus den Wiesen steiget
der weiße Nebel wunderbar.
Das Abendlied vom Mond, der aufgegangen ist, und von den Sternlein, die am Himmel prangen, das Lied vom schwarzen Wald und weißen Nebel – ich mag es seit meiner frühsten Kindheit.
Wie unzählige Mütter ihren Kindern hat auch meine Mutter mir das Lied von Matthias Claudius als Schlaflied vorgesungen. Mit allen Strophen habe ich es später in der Schule auswendig gelernt. Und heute singe ich es gern meinem kleinen Enkel vor und streichle dabei über sein Näschen.
Immer noch kann ich mich amüsieren über den kindlichen Hörfehler, den Axel Hacke in seinem Büchlein so nett aufspießt: Statt: „Aus den Wiesen steiget der weiße Nebel wunderbar ...“ - „Aus der Isar steiget der weiße Neger Wumbaba ...“
Gänsehaut kriege ich, wenn ich Herbert Grönemeyer das Lied singen höre - auf seine unverwechselbare Art als Abschluss der Livekonzerte – hunderttausende Mal auf youtube heruntergeladen.
Dieter Höss holt mit augenzwinkerndem Ernst den fernen, fremden Mond in unsere Zeit:
Der Mond ist eingefangen,
von Sonden schon begangen,
von Fotos wohlvertraut.
Das All steht schwarz und schweiget,
doch aus Raketen steiget
Schon hie und da ein Astronaut.
Das „Abendlied“ von Matthias Claudius fasziniert und wirkt auch heute noch. Längst nicht alles Kunst, auch viel Kitsch, was Leute so mit dem Lied machen. Aber dies alles zeigt mir, wie stark das Original ist – auch nach fast 240 Jahren.
Natürlich weiß ich längst, dass weder der Mond „aufgeht“ am Himmel, noch die Sternlein „prangen“ wie an denselben angeklebt. Das verhindern schon Scheinwerferhelligkeit und Abgasdunst: den weiten Blick nach oben in die Unendlichkeit des Himmels. Und den schwarzen Wald und den weißen Nebel beobachten – selten nehme ich mir dafür Zeit. Viel öfter mache ich die Nacht zum Tag.
Aber trotzdem - oder vielleicht gerade deswegen: Viel klingt in mir an, wenn ich das Lied singe, zusammen mit anderen. Oder einfach nur seine Melodie höre.
Je älter ich werde, desto mehr Zugang gewinne ich zu der Welt- und Menschensicht, die Claudius' „Abendlied“ ausstrahlt. Ich genieße es, diesem scheinbar so kindlichen Blick auf die abendliche Welt nachzuspüren. Und es klingt fremd und tröstlich zugleich, fast sehnsuchtsvoll:
Wie ist die Welt so stille,
und in der Dämmrung Hülle
so traulich und so hold.
Als eine stille Kammer,
wo ihr des Tages Jammer
verschlafen und vergessen sollt.
Ja, es tut gut, den Tag Tag sein zu lassen, und den Abend Abend. Wie oft kreisen meine Gedanken in der Nacht. Ruhelos. Aber eben auch ergebnislos. Wie schön wäre dann eine innere Welt „so stille“! Wenn mein Kopf und Herz sich ängstigen vor dem, was der neue Tag bringen wird, dann wünsche ich mir genau diese „stille Kammer, wo ihr des Tages Jammer verschlafen und vergessen sollt.“ Was für ein Segen ist gerade dann der gute Schlaf...
Seht ihr den Mond dort stehen?
Er ist nur halb zu sehen
und ist doch rund und schön.
So sind wohl manche Sachen,
die wir getrost belachen,
weil unsre Augen sie nicht sehn.
Nur halb zu sehen, aber doch rund und schön… Diese Strophe vom Mond hat mir schon immer besonders gut gefallen.
Als Kind habe ich versucht herauszufinden, ob die Mondsichel zu einem zunehmenden oder abnehmenden Mond gehört. Das hatte ich in der Volksschule gelernt: In der lateinischen Handschrift entspricht der Bogen des kleinen „a“ der Richtung des abnehmenden Mondes, und der Bogen des alten kleinen „z“ dem des zunehmenden. Viel habe ich nicht behalten aus dem Naturkundeunterricht. Aber das fällt mir immer ein, wenn ich den Mond anschaue...
Heute macht mich diese dritte Strophe von Claudius' Abendlied auch sehr nachdenklich. Sie entlarvt meine Überheblichkeit. Meine schnellen Vor-Urteile. Ja, da ist so manche Sache, die ich getrost belache. Aber oft müsste mir das Lachen im Halse stecken bleiben. Weil es nur die halbe Wahrheit kennt – höchstens. Oder nur einen schmalen Ausschnitt vom vollen, runden, lebendigen Leben. Weil es nicht den Menschen wahr-nimmt. Nicht die Hintergründe, nicht die wahren Motive.
Aber wir lachen - “weil unsre Augen sie nicht sehn.“… Ja, auch das ist wahr:
Wir stolzen Menschenkinder
sind eitel arme Sünder
und wissen gar nicht viel.
Wir spinnen Luftgespinste
und suchen viele Künste
und kommen weiter von dem Ziel.
Ein Gedanke aus Psalm 8, den Matthias Claudius in seinem Lied aufgreift: Dort schaut der Beter - wie der Liederdichter rund 2500 Jahre später - auch an den Himmel und kann nur eins: staunen über die wunderbare Schöpfung.
Wenn ich sehe die Himmel, deiner Finger Werk,
den Mond und die Sterne, die du bereitet hast:
Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst,
und des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst?
Du hast ihn wenig niedriger gemacht als Gott,
mit Ehre und Herrlichkeit hast du ihn gekrönt!
So sind wir Menschen: wunderbar gemacht. Mit unglaublich vielen Gaben. Großartig. Einzigartig. Gekrönte Ebenbilder Gottes. Das ist wirklich zum Staunen! Aber zugleich gilt: „Wir stolzen Menschenkinder sind eitel arme Sünder!“ Trotz all unserer tollen Fähigkeiten scheitern wir so oft. Das erschreckt mich: Ich wünsche und plane – und laufe doch am Ziel vorbei. Ich rede und diskutiere – und finde keine Lösung. Ich denke und grüble – und verstehe nicht wirklich. Menschliche Künste: wie oft Luftgespinste, die im Wind verwehen und keine Spuren hinterlassen.
Was bleibt?
Gott, lass dein Heil uns schauen,
auf nichts Vergänglichs trauen,
nicht Eitelkeit uns freun;
lass uns einfältig werden
und vor dir hier auf Erden
wie Kinder fromm und fröhlich sein.
Der Blick wendet sich. Von der Beschreibung der Welt und des Menschen - hin zu Gott. Das Lied wird zum Gebet. Ob das vielleicht die angemessene Haltung ist? Sie macht mich offen – für das, was meine Augen nicht so einfach sehen?
Was bleibt und trägt im Leben? „Gott, lass dein Heil uns schauen.“
Für Claudius die liebevolle Zuwendung Gottes: Jede andere Sicherheit ist vergänglich. Erfolg und Karriere. Macht und Geld. Gesundheit und Kraft.
All dies ist „eitel“ – im Sinne dieses alten Wortes: trügerisch, vorläufig, nicht von letzter Wichtigkeit. Vielleicht macht dies alles eitel im modernen Sinn: stolz und selbstsicher. Aber es trägt nicht wirklich. Was trägt, ist kindliches, unbefangenes Vertrauen. So bittet Matthias Claudius: „Lass uns einfältig werden.“
Da möchte ich protestieren: Einfältigkeit? Dümmliche Blödheit? Nein!
Aber ich merke auch - das ist eine tiefe Sehnsucht: Ein-falt statt Zwie-falt. Mit sich selbst eins sein statt hin und her gerissen im Selbstzweifel. Eindeutig leben statt mit dem Fähnchen im Wind. Echt sein statt fassadenhaft. Ja, so ein Leben wünsche ich mir - bis zum Ende:
Wollst endlich sonder Grämen
aus dieser Welt uns nehmen
durch einen sanften Tod!
und wenn du uns genommen,
lass uns in' Himmel kommen,
du unser Herr und unser Gott.
Romantisch. Schönfärberei?
Das wird dem Dichter ja manchmal vorgeworfen. Ich höre hier einen großen Ernst, mit dem Matthias Claudius die letzten Dinge anspricht. Er weiß, wovon er redet. Der Tod war ständiger Begleiter seines Lebens. Drei seiner Geschwister verliert Claudius als Kind. Sein Lieblingsbruder stirbt durch eine Pockenseuche während der gemeinsamen Studentenzeit. Jung verheiratet verliert er seine wenige Stunden alte erste Tochter, später dann zwei weitere Kinder. Er kennt den unzeitigen, den brutalen Tod. Das abgebrochene Leben.
Wenn ich mir das bewusst mache, dann berührt mich seine Bitte umso mehr: ein sanfter Tod zur rechten Zeit. Und mir kommt sein „Kriegslied“ in den Sinn, fast zeitgleich zu seinem „Abendlied“ veröffentlicht:
S' ist Krieg! S’ ist Krieg!
O Gottes Engel wehre
und rede Du darein!
S' ist leider Krieg –
und ich begehre
nicht schuld daran zu sein!
Was sollt’ ich machen,
wenn im Schlaf mit Grämen
und blutig, bleich und blass
die Geister der Erschlagnen
zu mir kämen
und vor mir weinten, was?
Nichts von harmloser Beschaulichkeit. Nichts von romantischer Weltbetrachtung. Geschweige denn von ruhiger Abendstimmung und süßem Schlaf. Stattdessen Protest gegen die Brutalität von Krieg. Matthias Claudius' Abendlied gewinnt für mich durch sein Anti-Kriegslied noch an Tiefe.
So, wie es sich in der letzten Strophe dann rundet:
So legt euch denn, ihr Brüder,
in Gottes Namen nieder,
kalt ist der Abendhauch.
Verschon uns, Gott, mit Strafen,
und lass uns ruhig schlafen
und unsern kranken Nachbarn auch.
Mag auch der Abend des Tages oder der Abend des Lebens oder der Abend der Welt kalt erscheinen und bedrohlich – geborgen in Gott kann er ein behüteter Abend werden. Und ein gutes Ende nehmen. Nicht nur für mich. Auch für meinen Bruder, meine Schwester. Und für „unsern kranken Nachbarn auch“.
Musik dieser Sendung:
(1-7) Der Mond ist aufgegangen, Lied:gut! Die schönsten deutschen Volkslieder, CALMUS Ensemble Leipzig
(8) Der Mond ist aufgegangen, Volkslieder - Dieter Falk, Dieter Falk