Am Sonntagmorgen
"Ihr Kinderlein kommet"
Impressionen einer Großmutter
13.12.2015 08:35

Hoch aufgerichtet sitzt Paula in ihrem Kinderwagen, reckt ihr Ohr und den Zeigefinger in die Luft. Horch! Musik! Ihr Kinderlein kommet, zur Krippe her kommet!

Ja, ja, wir kommen schon! Ich schiebe den Kinderwagen langsam durch den Weihnachtsmarkt in Richtung Krippe. Links und rechts Stände mit Kerzen, Christstollen und Schwibbögen aus dem Erzgebirge.

Paulas Augen wandern von Kerze zu Kerze, sie kann sich gar nicht satt sehen an dem Glitzer und bunt. Und sie strahlt heller als der Weihnachtsstern über uns mit seiner 500 Watt Birne. Ich will den Wagen weiterschieben, aber Paula dreht sich zu mir um, mit strengem Blick. Schon gut. Ich weiß, du brauchst Zeit. Staunen braucht Zeit.

Nach gefühlt einer Stunde sind wir an der Weihnachtskrippe angekommen, ein schummrig erleuchteter Holzverschlag mit Maria, Josef und einem Jesuskind aus Hartplastik. Paulas Blick ist voller Fragezeichen.

Ich freue mich drauf, ihr die Geschichte einmal zu erzählen. Dafür sind wir Großeltern ja da. Geschichten von früher erzählen, weil die heute noch wichtig sind. Die von Maria, Josef und dem Kind. Die nach dieser ärmlichen Idylle im Stall geflohen sind vor dem Terror ihres Königs, der ja alle Kinder umbringen lassen wollte. Und die dennoch wohlbehalten in Nazareth angekommen sind, wo das Kind zu einem Mann werden sollte, der die Welt verändert.

Die Glut der Tradition warm halten. Damit sie Herzen wärmen und trösten kann in Zeiten des Terrors. Vielleicht will Paula ja auch wissen, warum mir dieser Jesus so wichtig ist und dass ich ohne ihn nicht die wäre, die ich heute bin.

 

Gelobet seist du Jesu Christ,

dass du Mensch geworden bist

von einer Jungfrau, das ist wahr,

des freuet sich der Engelschar. Kyrieleis.

 

Den aller Welt Kreis nie beschloß,

der liegt in Marien Schoß,

er ist ein Kindlein worden klein,

der alle Ding erhält allein. Kyrieleis.

 

Gott als Kind in der Krippe. Das Ewige, Vollkommene in der Gestalt eines kleinen hilflosen Kindes. Ich glaube, Paula kann das verstehen. Besser als viele Erwachsene.

Kein Erwachsener käme auf die Idee, dass man die Erlösung von Hass und Unfriede in einer Krippe finden kann. Dass ein Kind die Welt verändern kann.

Den aller Welt Kreis nie beschloß, der liegt in Marien Schoß.

 

Hat Martin Luther in seinem Lied getextet. Das Heil der Welt kann doch nicht in einer Krippe liegen!

Das kann doch nicht von einem Kind ausgehen, verletzlich und ungeschützt, wie es ist. Das Heil liegt doch darin, sich zu schützen, die Türen der eigenen Verwundbarkeit zu schließen.

Das ist erwachsenes Denken. Geld und Karriere sind beliebte Mittel, sich unverwundbar zu machen oder auch: sich vor der Willkür Anderer zu schützen.

Und jetzt hat der halbe Weltkreis beschlossen, noch mehr Kampfjets nach Syrien zu schicken. Ohne Strategie, ohne Plan. In der irrigen Hoffnung, sich dadurch gegen den Terror schützen zu können. Obwohl die Erfahrung vergangener Kampfeinsätze das Gegenteil lehren könnte.

Was kann Menschen zur Umkehr bewegen? Was hat die Kraft, aus Bösem etwas Gutes werden zu lassen?

In der Auseinandersetzung um den Umgang mit Flüchtlingen war es ein kleiner Junge, genauso alt wie Paula. Er lag tot am Strand, ertrunken auf der Flucht. Das Bild des toten Jungen hat die westliche Welt erschüttert. Und viele haben gesagt: jetzt ist es Zeit, jetzt muss ich etwas tun, um Flüchtlingen zu helfen.

Wo ist Hilfe in allem Bösen? Wo ist die Macht, die etwas zum Guten ändert? Wo ist Gott? Die Weihnachtsgeschichte sagt: Sucht sie in der Sanftmut eines Kindes, in der Verletzlichkeit eines Neugeborenen. Im grenzenlosen Vertrauen, wie es Kinder haben.

Kinder haben solches Vertrauen lange bevor sie geprägt sind von der Kultur oder Religion, in die sie hineingeboren werden. Dieses Vertrauen verbindet uns über Kulturen und Religionen hinweg als Kinder Gottes.

Und jetzt darf ich als Großmutter das alles hautnah sehen und erleben. Wenn Paula staunt, mit großen Augen und ganz weitem Herzen.

Wenn sie sich mir anvertraut mit Haut und Haaren. Dass ich sie unbeschadet durch die Straßen fahre in ihrem Wagen und sie dann, wenn sie erschöpft eingeschlafen ist, über ihren Schlaf wache. Ihr Vertrauen macht mein Herz weit. Und lässt mich meine eigene Verletzlichkeit deutlicher spüren.

 

Nein, die Heilige Familie war keine bürgerliche Kleinfamilie, wie wir sie kennen. Vater – Mutter – Kind. Oder alleinerziehende Mutter – Kind. Auch wenn man in der Weihnachtsgeschichte immer nur Vater, Mutter, Kind sieht, also Maria, Josef und Jesus.

Jesus hat eine Großfamilie gehabt wie alle Kinder damals, Onkel, Tanten, Cousinen. Und eine Person war so wichtig, dass sie in der christlichen Ikonographie häufiger vorkommt.

Es ist Großmutter Anna. Die Mutter von Maria. Oma Anna hat in der Nähe von Jerusalem gelebt, wo auch Maria geboren war. Ihr Mann Joachim war Priester dort und es ist anzunehmen, dass sie eine gebildete Frau war.

Anna kommt ab dem 8. Jahrhundert in der christlichen Ikonographie vor im Motiv von "Anna selbdritt": also Anna zu dritt. Als Großmutter, Mutter und Kind – Anna, Maria und Jesus.

Die drei haben eine besondere Bedeutung füreinander. Und die hat Leonardo Da Vinci im 15. Jahrhundert für mich besonders berührend dargestellt.

Da Vinci hat die drei vor eine karge Gebirgslandschaft gemalt. Anna als junge und gut aussehende Frau in einem grauen Kleid- dem Zeichen ihrer Witwenschaft. Anna schaut nach vorne. Auf ihrem Schoß sitzt ihre Tochter Maria, ebenfalls jung und wunderschön in einem hellblauen Kleid.

Maria sitzt nach links zur Seite gedreht und beugt sich nach vorne zum kleinen, vielleicht zweijährigen Jesus hin. Jesus hält sich an einem Lämmchen fest, auf das er steigen will. Davon aber versucht Maria, Jesus abzubringen und ihn zurück zu sich auf den Schoß zu ziehen. Eine kleine Rangelei spielt sich da ab auf dem Schoß der Anna. Aber die lehnt sich zurück und lächelt jenes geheimnisvolle Lächeln, das schon Mona Lisa berühmt gemacht hat. Ihr Blick und die ganze Haltung strahlen Ruhe und Gelassenheit aus.

Die Geschichte dahinter will sagen: Jesus will das Lamm besteigen, Symbol der Selbsthingabe und des Leidens. Jesus selbst wird zum Lamm Gottes, das der Welt Sünde trägt, das sich opfert um Andere zu retten. Und Maria, die besorgte Mutter, will ihr Kind natürlich vor diesem Leiden bewahren. Erstaunlich ist jedoch, dass Maria auf dem Bild dazu nicht aufsteht. Sie könnte ja stehend das Kind hochreißen und von dem Lamm entfernen. Aber- Maria bleibt auf dem Schoß ihrer Mutter Anna sitzen.

Und Anna- auch sie lässt es geschehen. Auch sie könnte aufstehen und ihrer Tochter zeigen, wie man es richtig macht. Oder ihr erklären, wie sie mit dem Trotz ihres Sohnes umgehen soll. Anna aber bleibt sitzen. Sie schiebt sich nicht zwischen Tochter und Enkelsohn mit ihrem Wissen, mit ihrem Tun. Eine große Versuchung für eine Großmutter.

Schon gar, wenn sie tatsächlich mehr sieht als ihre Tochter. Anna bleibt in der zweiten Reihe, in der Distanz. Und doch ist sie da. Mit ihrem Schoß, ihrer Gelassenheit und ihrem Lächeln.

Vielleicht, weil sie weiß, dass Jesus seinen Weg gehen muss. Anna kennt den größeren Zusammenhang, den Sinn. Gerade weil sie Abstand hat. Anna weiß: Eine Mutter braucht Zeit, um zu verstehen, wofür ihr Kind auf der Welt ist. Ihre Aufgabe ist es, ihr Kind vor Leiden bewahren. Eine Großmutter aber weiß, dass privates Glück und Unversehrtheit nicht immer das Wichtigste auf der Welt sind.

 

Mit Paula unterwegs zu sein ist immer ein Abenteuer. Wenn wir auf dem Spielplatz sind, stehe ich hinter ihrer Schaukel und muss sie ganz hoch anschubsen. Und wenn sie juchzt, setze ich mich auf die Schaukel daneben und wir schaukeln und juchzen miteinander.

Vor lauter Begeisterung klettere ich mit ihr das Klettergerüst nach oben. Um dann zu merken: Runtersteigen ist ganz schön schwierig. Ich bin ja gar nicht so gelenkig, wie ich dachte. Ich bin nicht so jung, wie ich mich fühle. Vor allem, wenn ich mit Paula zusammen bin. Mit Paula kann ich fühlen wie ein Kind – kann mit ihr eintauchen in die heile Welt von Bullerbü und Bethlehem. Und ertappe mich bei dem Wunsch, dort immer bleiben zu wollen.

Erwachsen sein ist ein permanenter Balanceakt. Natürlich ist es wichtig, das Kind, das wir auch noch sind, anzunehmen. Mit all seiner Kreativität, Lebendigkeit und Freude. Aber Erwachsensein heißt auch, tun, was getan werden muss und was nicht immer Freude macht, ja was sogar Leiden und Verzicht bringt. Erwachsen sein heißt nun mal: Verantwortung übernehmen.

Verantwortung nicht nur fürs eigene Wohlbefinden und für den eigenen Lebensunterhalt. Verantwortung auch für einen anderen Menschen, fürs Ganze, für die Gemeinschaft, in der man lebt.

Meine Verantwortung als Großmutter sehe ich darin, es nicht immer besser wissen zu wollen, mich bei aller Liebe in der zweiten Reihe zu halten. Da zu sein und es auszuhalten, dass ich erst gefragt bin, wenn ich gefragt werde. Das fühlt sich bisweilen so an, als wäre man nicht wichtig. Anna aber, die Großmutter Jesu, hat gerade in ihrer Zurückhaltung den Weg dafür geebnet, dass Gottes Geschichte mit uns ihren Lauf nehmen kann.

 

Es ist kalt geworden auf dem Weihnachtsmarkt. Paula sitzt erschöpft in ihrem Wagen. Ein letzter Blick auf die Krippe mit Maria, Josef und dem Jesuskind aus Hartplastik. Paula findet es schön. Es erinnert sie wohl an ihren kleinen Bruder. Der unendlich viel Zärtlichkeit aus ihr hervorlockt. Wenn sie nicht grade eifersüchtig ist.

Nein, die Welt bleibt nicht stehen, der Unfriede hält nicht die Luft an. Das Böse bleibt nicht außen vor. Bei mir nicht und auch nicht bei Paula. Und wenn sie irgendwann nicht weiß, wie sie damit klarkommen soll, dann biete ich ihrer Mutter meinen Schoß an. Wie Anna ihrer Tochter Maria. Und ich werde ihr erzählen, dass die Weihnachtsgeschichte genau dafür geschrieben ist. Dass wir uns nicht in einer heilen Welt einigeln. Sondern uns einmischen. Weil Gott will, dass wir sie ein bisschen heiler machen. Und uns selber heilen lassen. Uns Gott anvertrauen wie Kinder das so unvergleichlich gut können.