Morgenandacht
Durst löschen
25.03.2017 05:35

Zwölf Uhr mittags. Flirrende Hitze. Glühende Felsen. Der heiße Wind entlockt dem staubigen Gras spröde Geräusche. Ein Mann und eine Frau begegnen sich an einem Brunnen. Seltsam eigentlich, die Uhrzeit. Körperliche Arbeit wie Wasserholen erledigen die Frauen bei diesen Temperaturen eigentlich am frühen Morgen oder am späten Nachmittag. Das wissen ungezählte Kinder und Frauen, die noch heute Tag für Tag Wasser in die heimischen Hütten schleppen. Den meisten Deutschen fehlt diese Erfahrung. Wasser ist bei uns ja ziemlich alltäglich. Kommt aus dem Hahn. Ist immer da. Sogar trinkbar. Wie viel Wasser wir am Tag brauchen, beschäftigt uns wenig.


Johannes, der Evangelist, ist in diesem Abschnitt seines Buches ein Dramaturg der Hitze und des gleißenden Lichts. Es ist die sechste Stunde: kürzeste Schatten, größte Hitze, zwölf Uhr mittags.


Zwei Gestalten treffen sich in dieser Mittagshitze am Jakobsbrunnen. Das ist nicht irgendein Brunnen, das ist ein religiöser Kraftort der Samaritaner, berühmt für sein frisches Wasser. Samaritaner gibt es heute noch. Sie waren gewohnt, von Juden eher geringschätzig behandelt zu werden. Und Frauen waren gewohnt, dass Männer ohnehin nicht auf Augenhöhe mit ihnen reden. Schon gar nicht über Theologisches.


Ein jüdischer Mann, eine samaritanische Frau also. Was sie verbindet: Beide sind dem Establishment und seinen ungeschriebenen Gesetzen entwachsen. Beide fremd im eigenen Land. Erfahren darin, missverstanden zu werden. Denn nur weil jemand noch in dem Land lebt, in dem er geboren wurde, bedeutet das ja nicht, dass er verstanden wird. Der herumvagabundierende Prediger Jesus, der Gott Vater nennt, und die Frau, die mit dem sechsten Mann ihr Leben teilt. „Photina“ heißt sie in der griechischen Tradition. Doch bei Johannes bleibt sie namenlos. Beide, Mann und Frau, scheinen immerhin nicht auf den Mund gefallen zu sein. Beide scheren sich nicht um Konventionen. Sie reden einfach miteinander. Durst ist ihr Thema. Durst in jeder Beziehung. Zunächst ganz praktisch. Es ist mittags, es ist heiß, Jesus hat schon einen Marsch hinter sich und er möchte trinken. Und Photina – die mit Männern sicher schon eine Menge erlebt hat - lässt ihn erstmal auflaufen. Foppt ihn ein bisschen. Sie kommen ins Plaudern.


Wie kunstvoll lässt Johannes die beiden dann aneinander vorbeireden. Leichtfüßig blendet er in diesem mittäglichen Flirt über Wasser und Gebet eine Vision vom Reich Gottes ein, in dem niemand mehr durstig sein muss. Es geht gar nicht mehr ums Wasser. Es geht um diesen brennenden Durst nach Leben. Und um die Ungeduld, die schon den nach Wasser Durstigen so quälen kann. Der ausgetrocknete Mund, die rissigen Lippen - und dann der erste Schluck. Wie die Kühle sich ausbreitet in der Mundhöhle. Ein Fest. Und der Durst der Seele? Wie wird der gestillt? Und wann?


„Es kommt die Zeit und das ist jetzt.“ Beiläufig fast schreibt Johannes in diesem Gespräch Jesus zum Messias um. Zu einem, der Durst endgültig löschen kann. Er entwirft im flirrenden Mittagslicht eine Vision: Jetzt. Hier an diesem Brunnen tut sich der Himmel auf: Nicht morgen. Jetzt. Denn es gibt kein Morgen. Es gibt immer nur den Augenblick, und in dem kann sich der Himmel auftun. Himmel bedeutet in diesem Fall: Kein Durst, kein Hunger, Mann und Frau begegnen sich auf Augenhöhe, moralische Vorbehalte sind obsolet, fremde Kulturen trennen nicht, religiöse Traditionen verlieren an Bedeutung. Wer betet, soll das im Geist und in der Wahrheit tun, Gemeinschaft entsteht. Moschee, Kirche, Synagoge, Jakobsbrunnen – völlig egal. Wichtig ist, dem Fremden den Durst zu stillen und zu glauben: Eine andere Welt ist möglich.