Morgenandacht
Gemeinfrei via Unsplash/ Kristina Kutleša
Brunnenpunkt der Seele
Morgenandacht von Pfarrerin Melitta Müller-Hansen
11.05.2023 06:35

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Die Sendung zum Nachlesen: 

In meiner Kindheit auf dem Dorf stand im Hof jedes Hauses ein Brunnen. So auch bei uns. Wasserschöpfen, kühles Wasser daraus trinken gehörte zum Alltag. Manchmal auch einen Stein hineinwerfen, um dem Plopp zu lauschen. Wie das Wasser klingt! Ganz verboten war für uns Kinder, auf den Brunnenrand zu klettern und hinabzuschauen in diese geheimnisvolle Tiefe. Denn wie leicht konnte man abrutschen - und dann? Ich habe mich hochheben lassen und sehe den schwarzen Brunnenschaft noch vor mir. So tief! Wo kommt denn das Wasser her? Später wurde das Wasser ins Haus geleitet, der Brunnen blieb stehen und verlor an Bedeutung. Trotzdem oder deswegen liebe ich Brunnengeschichten. Sie holen diesen archaischen Ort zurück in die cleane Welt der Wasserleitungen. Als Ort der Begegnung, des Gesprächs, aber auch als Ort, an dem es um den Durst geht und was ihn stillen kann.

Viele Brunnengeschichten der Bibel sind Frauengeschichten. Rebecca hält sich am Brunnen auf und tränkt die Kamele des Fremden, das macht sie zur Auserwählten. Liebesgeflüster findet am Brunnen statt. Und dann Hagar, die verstoßene Sklavin mit ihrem Baby im Arm – mitten in der Wüste zeigt der Engel ihr den rettenden Brunnen. Und sie gibt Gott an diesem Brunnen einen neuen Namen: „Du bist ein Gott, der mich sieht“. Schließlich die Samaritanerin mit Jesus am Brunnen – wer stillt hier wem den Durst, wer reicht hier wem das Wasser? Die Geschichte spielt mit diesen Fragen. Was kann meinen tiefen Durst nach erfülltem Leben stillen? Am Ende geht es darum, welcher spirituelle Weg alle Menschen zur Quelle führt, aus der schließlich auch alle trinken wollen? Der Brunnen als Ort des Friedens. Es gibt dafür kaum einen geeigneteren.

Im vergangenen Jahr hatte ich, wie viele andere während der Zeit der Pandemie, das Gefühl, mein Brunnen, mein Lebensquell trocknet aus. Es ist wie ein Erstarren. Da ist mir eine Brunnenerfahrung des Jesuitenpaters Alfred Delp begegnet. Er ist zu der Zeit, als er das aufschreibt, im Gefängnis in Berlin-Tegel, und gerade mal 37 Jahre alt. Ein engagierter Priester aus München. Er beteiligt sich am Widerstand gegen das NS-Regime, ist Mitglied im Kreisauer Kreis und wird kurz nach dem missglückten Attentat vom 20. Juli gefangen genommen und später hingerichtet. Im November 1944 schreibt er noch in der Haft diese unglaublichen Zeilen.

Das eine ist mir so klar und spürbar wie selten: die Welt ist Gottes so voll! Aus allen Poren der Dinge quillt er uns gleichsam entgegen. Wir aber sind oft blind. Wir bleiben in den schönen und bösen Stunden hängen und erleben sie nicht durch bis an den Brunnenpunkt, an dem sie aus Gott herausströmen. Das gilt für alles Schöne und auch für das Elend. In allem will Gott Begegnung feiern und fragt und will die anbetende, hingebende Antwort. Die Kunst und der Auftrag ist nur dieser, aus diesen Gnaden und Einsichten dauerndes Bewußtsein und dauernde Haltung zu machen. Dann wird das Leben frei in der Freiheit, die wir immer suchen. (1)

Der Brunnenpunkt in der Seele. Das ist eine Tiefe, die das Kind vielleicht schon geahnt hat, beim Hinabschauen in den Brunnen. Woher kommt das Wasser? Woher kommt das Leben?  Woher kommt Weinen und Trost und Freude? Die Tiefe in mir, der Brunnenpunkt, an dem alles aus Gott strömt.  Das Schöne und das Elend meines Lebens.

Über diesem „Brunnenpunkt“ verweile ich seither sehr gerne. Und meine, ihn auch lokalisieren zu können – da wo die spirituellen Traditionen den Mittelpunkt des Körpers verorten, im unteren Bauch. In allem will Gott Begegnung feiern.

Es gilt das gesprochene Wort.

 

 

(1)  (https://www.viacordis.net/inspiration/2020/5/3/der-brunnenpunkt, aufgerufen am 17.04.2023, 12.15 Uhr)