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Seine Eltern wünschten ihm immer nur das Beste, was früh begann. Sie gaben ihm den Namen Andreas, was bedeutet: der Mannhafte. Stark sollte Andreas sein, wobei Mama und Papa bei der Namensgebung an ein klassisches Prinzip aus der Entwicklungshilfe dachten: „Wirkliche Hilfe bedeutet Hilfe zur Selbsthilfe.“ Sie wollten Andreas so erziehen, dass er souverän und selbstständig werden sollte, kein Macho, aber lebenstüchtig. Dass die Eltern sich von einer Überzeugung aus dem Bereich der Entwicklungshilfe inspirieren ließen, klingt natürlich unglaubwürdig. Es leuchtet ein, wenn man weiß, dass die Eltern Pädagogen waren. Er unterrichtete Politik und Mathematik, sie war Lehrerin für Geschichte und Sozialkunde.
„Es gibt nichts, was man nicht mit einem bisschen Vernunft in den Griff bekommen könnte“, lautete das Motto der Eltern. Ob in Kindergarten, Schule, in der Bastelstunde oder beim Fußball auf der Wiese eines der wenigen noch unbebauten Grundstücke in der neuen Siedlung – Andreas fand für die Kniffligkeiten des Alltags einen Ausweg. „Gut gemacht!“, lobten seine Eltern und trieben ihn weiter an: „Es gibt nichts, wofür es nicht auch eine Lösung gibt.“
Als Andreas das erste Jahr Englisch in der Schule absolviert hatte, buchten seine Eltern für ihn Sprachferien im Ausland. Andreas fand sich zurecht. Schon früh gelang ihm, Erlerntes selbstständig auf unbekannte Situationen zu übertragen: „Diese Fertigkeit nennt man Transfer“, erklärten ihm die Eltern. Andreas nickte und hatte gleich ein neues Fremdwort gelernt.
Eines Tages befand sich Andreas nicht mehr auf der Schule, sondern wurde aus der Schule ins Leben entlassen. Seine Eltern, von Beruf ja Lehrer, blieben an der Schule, auch wenn sie langsam schwächer wurden. So hätten sie das selbst natürlich niemals formuliert, sie sagten: „Im Leben kommt man mit allem zurecht, auch mit der anstehenden Pensionierung.“
Sohn Andreas fand sich in einem Beruf wieder, er fand eine Frau. Es fanden sich auch Kinder. Er hatte das Leben im Griff. Und alles war gut. Am 3121. Tag nach der Eheschließung war ihm etwas komisch zu Mute. Ausgerechnet Andreas schien keinen Mut mehr zu haben. „Papa – spielen, spielen!“, riefen die Kinder, als er von der Arbeit kam. Er aber spielte nicht, sondern legte sich zu Bett. Von diesem Tag an fiel ihm vieles schwer, er lahmte, sein Atem war oft flach. Andreas spürte in seinen Fingern nicht mehr die gewohnte Kraft, den Alltag in sicheren Bahnen halten zu können. Manchmal lockerte sich der Griff der Hände. Wenn das geschah, konnte Andreas neuen Atem finden. Dann schien ihn ein Brausen erfassen zu wollen, was ihn wiederum in Angst versetzte. Überhaupt die Sache mit der Angst. Sie schien vor allem im Büro zu lauern. Er meinte zu bemerken, wie Kollegen hinter seinem Rücken Witze über ihn erzählten. Andreas erlaubte sich in solchen Momenten einen Gedanken, den er sich bis dahin noch nie genehmigt hatte: „Bin ich vielleicht am Ende gar nicht so stark, wie Mama und Papa sagten?“
Immer häufiger brach bei ihm der Schweiß aus, das war nicht zu kontrollieren. So hatte er sich angewöhnt, Hemden grundsätzlich doppelt, in identischer Ausführung, zu kaufen. Bei der Arbeit hatte er das zweite stets dabei, im Fall eines Schweißausbruchs tauschte er es sich auf der Toilette mit dem feuchten. Andere in seiner Situation hätten die Krawatte gelockert, er band sie nur fester. Am Abend allerdings, zu Hause in der Familie, bekam man ihn nicht mehr in den Griff. „Dürfen wir noch aufbleiben?“ Diese Kinderfrage hörte Andreas nicht mehr, weil er früher im Bett lag als die Kinder. Dort dämmerte er vor sich hin.
Eines Nachts meinte er, feindliche Stimmen zu hören, die ihn lachend seine Fehler im Büro vor Augen hielten – obwohl er bis dahin sicher war, niemals Fehler zu machen. Schlaflos wälzte er sich im Bett und hörte, wie die Stimmen seiner Eltern mit großem Echo hallten: „Du wirst dir schon zu helfen wissen!“ Andreas meinte, in einem Meer von Düsternis zu ertrinken, wollte mit den Armen rudern, um sich schlagen, schreien. Aber nein: Ein Ehemann und Vater hatte nicht zu schreien.
Am Morgen fühlte er sich erleichtert. Er hatte beschlossen, Hilfe zu holen, natürlich eine, die ihn in die Lage versetzen würde, sich selbst zu helfen. Es war ein Wochenende, an dem Andreas sich in eine Gruppe von anderen Hilfesuchenden begab. Man tauschte in der Runde Erfahrungen aus. „Ungereimtheiten im Leben tauchen niemals zufällig auf“, sagte eine Teilnehmerin. „Sie tragen einen verborgenen Sinn, der einen vorankommen lässt. Sie machen einen stärker!“ Dieses Statement überzeugte Andreas, der zunächst skeptisch in die Runde geblickt hatte. Nun wusste er: Er hatte das richtige Wochenende gebucht. „Auch das größte Durcheinander ist dazu da, um im Innern gewissenhaft aufzuräumen“, machten sich die Teilnehmer untereinander Mut. Der Gruppenleiter lächelte und sagte: „Also gut, wenn ihr das so wollt. Dann schreibt auf, was durch euer Inneres strömt.“ Und wieder war da dieses feine Lächeln, als er anmerkte und dabei die Brauen hochzog: „Diese Übung wird auch Meine Seele schreibt genannt.“ Für Andreas klang das esoterisch. Nicht zufällig hatte er sich für ein Wochenende angemeldet, das von einer kirchlichen Organisation verantwortet wurde. Darauf legte er schon Wert, schließlich wollte er nicht in irgendwelche unaufgeräumten Psychozirkel geraten. Aber er hielt still und schrieb.
Ich hatte mich in eine Situation manövriert, die mir offenbar nicht gut tat. Ich fühlte mich wie festgebunden. Aber wenn ich an mir arbeite, wird die Lähmung sich bestimmt lösen. Eine Krise, falls man in meinem Fall überhaupt von einer Krise sprechen sollte, ist immer eine Chance. Nicht alle waren zuletzt nett zu mir. Nun ja, es sind eben auch schwere Zeiten. Ich will nichts Schlimmes von den Menschen denken. Zugegeben: Zuletzt fiel in meinem Leben Nieselregen. Ich hoffte, dass andere mir Gutes wollten und wunderte mich, dass mir so gut wie niemand Gutes tat. Aber ich will noch besser lernen, das Gute im anderen zu sehen. Eigentlich bin ich zufrieden, nur zuweilen lustlos, worüber sich auch meine Frau beklagt. Aber wir sind ja schon einige Jahre verheiratet, dazu die Kinder. So will ich nun auch in Zukunft das Leben ausgeglichen absolvieren – nicht zuletzt mit Hilfe dieser Gruppe.
Die Seelenschriften wurden in der Runde vorgetragen. Die Teilnehmer lasen artikuliert, betonten gut, flüssig ging das von den Lippen. „Wir sind hier ja auch fast alles Akademiker“, dachte Andreas. Dennoch wirkten die Worte leblos. Sie klangen, als ob man sie an einer Hundeleine spazieren führte, um sie im Falle von Gefahr sofort zurückziehen zu können. Keiner hatte laut oder energisch gesprochen, trotzdem waren nach dieser Seelenrunde alle erschöpft. Nur der Gruppenleiter war mit einem Mal fröhlich: „Schluss! Wir treffen uns am Lagerfeuer.“ Die Teilnehmer tauschten amüsierte Blicke aus. Aber klar! Sie befanden sich ja in einem Freizeitheim, wenn auch in einem der gehobenen Klasse. Und in jedem Tagungshaus gibt es eine Feuerstelle.
Die Flammen fingen bald zu tanzen an, nicht zuletzt deshalb, weil im Lauf des Abends der eine oder die andere den Seelenzettel leichten Herzens in die Flammen geworfen hatte. Andreas hielt ein Würstchen über das Feuer, gespießt war es auf einem Stock. Wie als Kind, dachte er, um sich gleich darauf zu berichtigen. „Wir grillen niemals ohne Alufolie!“, hatten seine Eltern immer gewarnt. Andreas hielt sein Würstchen jetzt direkt in die Flammen, musste lachen und fand: Dieses Lachen klang wunderschön.
Die geräucherten Würstchen waren gegessen. Eine Glocke läutete: Abendgebet in der Kapelle. Seltsamerweise flackerten aber keine Kerzen im Raum, zwei Scheinwerfer waren aufgebaut. Die Stimme des Gruppenleiters klang mit einem Mal energisch wie die von einem Regisseur: „Spot an!“ Er schickte Andreas nach vorn und gab ihm einen Zettel in die Hand. Die Scheinwerfer leuchteten Andreas ins Gesicht. „Ich kann das nicht, ich kann nicht reden“, dachte er. Zuletzt hatte er als Kind Texte auf einer Bühne vorgetragen, das aber mit seinen Eltern zuvor stundenlang geübt. Andreas, noch den wilden Rauchgeschmack im Mund, schaute auf die fremden Worte auf dem Zettel – da zerriss etwas in ihm. Er fing an zu hüpfen, warf die Arme nach oben, rief die Worte ins Licht und begann irrsinnig zu schwitzen. Er riss sich schon bald das nasse Hemd vom Leib, warf es zu Boden. Aus Andreas löste sich eine ungeheure Kraft. Das Leben griff nach ihm, weil er es nicht mehr im Griff behalten konnte. Er sang, schrie und zertanzte stampfend seine Lähmung. Die anderen hatten erst gestaunt, dann begannen sie leicht zu wippen und hüpften bald schon mit. Sie sangen das alte wilde Lied ganz ohne Noten. Es war die Geburt. Andreas schrie sich in sein neues Leben mit den Worten, die der Regisseur in seine Hand gelegt hatte.
Es umfingen mich des Todes Bande,
und die Fluten des Verderbens erschreckten mich.
Als mir angst war, rief ich den Herrn an
und schrie zu meinem Gott.
Da erhörte er meine Stimme von seinem Tempel,
und mein Schreien kam vor ihn zu seinen Ohren.
Er streckte seine Hand aus von der Höhe und fasste mich
und zog mich aus großen Wassern.
Er errettete mich von meinen starken Feinden,
von meinen Hassern, die mir zu mächtig waren;
sie überwältigten mich zur Zeit meines Unglücks;
aber der Herr ward meine Zuversicht.
Er führte mich hinaus ins Weite,
er riss mich heraus; denn er hatte Lust zu mir. (Psalm 18,4-6.16-19)
Es gilt das gesprochene Wort.