Barmherzige Hüllen

Morgenandacht
Barmherzige Hüllen
24.06.2020 - 06:35
07.05.2020
Holger Treutmann
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Als Adam und Eva vom Baum der Erkenntnis aßen, waren sie nackt.

Und sie versteckten sich vor ihrem Schöpfer, weil sie sich schämten.

Dieser rief sie zur Verantwortung, war aber barmherzig. Gegen ihre Scham gab er ihnen Felle, dass sie sich bekleiden sollten. So die biblische Erzählung.

 

Der Berliner Reichstag wurde mit Planen verhüllt. Vor 25 Jahren verpackte das Künstlerehepaar Christo und Jeanne-Claude den Reichstag in ein aluminiumbedampftes Gewebe. Die äußeren Konturen blieben erkennbar, der fließende Stoff gab dem Gebäude eine skizzenhafte Silhouette. Das Sonnenlicht reflektierte die Ummantelung der Architektur. Der Wind spielte mit den Hüllen. Es war ein Kunstwerk auf Zeit. Nach 14 Tagen Sichtbarkeit war alles wieder entfernt. Das geschichtsträchtige Haus sollte nicht vereinnahmt werden. Es gehört „dem deutschen Volke“, so die beiden Künstler, wie es an seiner Fassade geschrieben steht.

 

1995 - Das war die Zeit, als sich der Reichstag anschickte wieder Sitz des neuen gesamtdeutschen Parlaments zu werden. 5 Jahre nach der Wiedervereinigung und 4 Jahre vor dem Einzug des Bundestages in das Haus, das so viel Geschichte atmet.

 

Vielen machte die Verhüllung deutlich, dass es keine ungebrochene Linie geben kann von der einstigen Nutzung des Reichstags in der Kaiserzeit, über die Ausrufung der Republik vom Balkon, dem Reichstagsbrand bis zur Wiedervereinigung und dem Neubezug durch den Deutschen Bundestag. Es war, als bräuchte das Gebäude ein schützendes und verhüllendes Kleid – nach Sünde und Schuld, die sich in vielfacher Hinsicht in der deutschen Geschichte ereignet haben. Die Machtübernahme der Nationalsozialisten, der Krieg, der von Deutschland ausging und auf das Land und die stolze Kuppel zurückfiel; die Teilung der beiden deutschen Staaten mit einem todbringenden Grenzstreifen unmittelbar vor der Haustür.

 

Das Geschichtsbuch lässt sich nicht einfach zuklappen. Wenn in diesem Gebäude beraten und abgestimmt wird, dann geht das nur eingehüllt in eine unverdiente Barmherzigkeit; eine Barmherzigkeit der Völker, die Deutschland wieder einen festen Platz im vereinten Europa gegeben haben. Eine Barmherzigkeit der Menschen innerhalb dieses Volkes, die sich ihre Schuld nicht gegenseitig aufrechnen. Und eine Barmherzigkeit dessen, dem die Geschichte der Welt am Herzen liegt und der Menschen und Völker nicht in ihrer Schuld untergehen lässt.

 

So ließe sich das Kunstwerk von Christo wie der biblische Schurz im verlorenen Paradies deuten. So verpackt oder verschnürt wie das Gebäude war, könnte man aber auch an ein Geschenk denken, das „dem deutschen Volke“ von neuem gemacht wurde, nachdem das Haus Jahrzehnte ungenutzt war. Insofern gehörte wohl auch die Deinstallation zur Kunstaktion. Das Auswickeln. Dann konnte der Neubau der gläsernen Kuppel beginnen. Sie steht für Transparenz und Zugänglichkeit einer Demokratie, die vom Volk gestaltet werden muss. Für mich sind besonders die Spiegel beeindruckend, die das Sonnenlicht in das Innere des Gebäudes reflektieren. Offenheit zum Himmel und Licht, für mich Hoffnungszeichen für eine Inspiration von oben her. Göttliche Weisheit und Klarheit mögen einleuchten.

 

Aus christlicher Perspektive deute ich die Kuppel so: die Parlamentarier stehen nicht nur in einer Verantwortung vor sich selbst, sondern auch denen gegenüber, die ihnen im Kuppelaufgang aufs Dach steigen. Und nicht zuletzt tragen sie Verantwortung einer höchsten Instanz gegenüber, die jenseits der Verfügbarkeit einzelner Menschen oder Länder liegt. Einige nennen sie bewusst Gott, andere tun das weniger ausdrücklich.

 

Politik ist jedenfalls kein Paradies. In dieser Welt müssen Entscheidungen getroffen werden, die nie perfekt sind. Sie sind immer ein wenig Kompromiss. Deswegen muss um sie gerungen und darüber gestritten werden. Sie sind praktisch nie gerecht für alle, sollten aber das Wohl und Recht aller im Blick behalten. So ist das „Jenseits von Eden“. Nicht nur Politikerinnen und Politiker sind angewiesen auf ein barmherziges Urteil, auch die, die sie wählen und Demokratie gestalten.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

07.05.2020
Holger Treutmann