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Sendung zum Nachlesen:
Die Flut vor 90 Jahren hat die Weserniederung südlich von Worpswede in eine weite, unüberwindliche Fläche verwandelt. Land unter, wie zu Zeiten Noahs. Wie kleine Inseln liegen die Bauernhöfe auf ihren Warfthügeln in der Wasserwüste, genauso die evangelische Sankt Jürgenkirche. Von hier wird 1932 ein Radiogottesdienst durch die Nordische Rundfunk AG (NORAG) übertragen.
"Aus einer einsamen Kirche grüße ich Euch, ihr Einsamen. [Sankt Jürgen heißt diese Einsamkeit]. Im Sommer eine Insel im Grünen, im Winter eine Insel, an die ringsum das Wasser schlägt."
Dieser Mitschnitt: Wohl einer der ältesten aufgezeichneten Gottesdienste aus einem Jahrhundert Rundfunkgeschichte in Deutschland. Nicht selbstverständlich, denn Aufzeichnungen sind damals teuer und aufwendig. Ich stoße darauf, als ich danach frage, wie es begonnen hat: mit Andachten und Gottesdiensten im Radio, nachdem am 29. Oktober 1923 im Berliner Vox-Haus der Sendetrieb gestartet ist. Das für damalige Zeiten charakteristische Rauschen und Krisseln gehört auch zum Radiogottesdienst aus der Hochwasserregion. Pastor und Organist setzen mit dem Ruderboot zur Kirche über. Allein, ohne Gemeinde. Die Predigt spricht zu denen am "Radioapparat", die in diesem Moment allein sind. Liebende, Großeltern, Trauernde, Einsame im Häusermeer der Städte, die Wache auf der Schiffsbrücke:
"Ich grüße Euch alle, die auf einer Insel der Einsamkeit leben: Alle, die im Häusermeer der Städte und im Gewoge der Welt einsamer geworden sind. Einsamkeit ist eine Brücke zum Ewigen. Ihr Einsamen ringsum, Ihr seid nie allein. Gott liebt es, sich in der Einsamkeit zu offenbaren."
Vielleicht etwas viel Pathos in der Stimme des Predigers, geschenkt. Denn hier wird in die Situation gesprochen. All jene, die voneinander getrennt sind, werden miteinander verbunden. Interessant finde ich, dass dieser 90 Jahre alte Mitschnitt in seinem Ablauf den heutigen Gottesdiensten im Deutschlandfunk ähnelt, die ich hin und wieder als Radiopastor begleite. Der Moment spielt eine Rolle; das Thema, das, was die Menschen bewegt. Hier das Getrenntsein durch das Hochwasser. Und heute wie damals steht am Beginn eine kurze Einführung zur Kirche, zum Thema des Gottesdienstes. Der Sprecher versucht alle Hörerinnen und Hörer in die Übertragung hineinzuholen, auch diejenigen, die religiös eher unmusikalisch gestimmt sind. Bei der Übertragung aus dem Flutgebiet der Weserniederung macht das der Intendant der NORAG. Und der meldet sich am Ende noch einmal zu Wort. Wieder die direkte Ansprache an die Hörerinnen und Hörer. Und da zeigt der Radiogottesdienst seine Stärke. Seine seelsorgliche Kraft:
"Ihr, die Ihr einsam seid auf dem Meer, Ihr Schiffer und Fischer und Schiffer fern von der Heimat. Wisst ihr noch, wie einsam Ihr wart, ehe wir mit Euch feierten? Heute seid Ihr verbunden mit uns. Irgendwo zündet der Glaube, uns schützen zu können vor Gefahren, andere Lichter an; und diese Lichter sind auch für Euch."
Ein Segen, dass diese Aufzeichnung aus der Sankt Jürgenkirche im Flutgebiet 1932 erhalten geblieben ist. Katalogisiert im Deutschen Rundfunkarchiv. Danke. Das Rauschen und Krisseln von damals hat für mich bis heute ganz viel Atmosphäre. Ich spüre selbst etwas von der Kraft dieses Moments vor über 90 Jahren. Und ich kann mir diese Einsamkeit um Sankt Jürgen vorstellen, die Wasserwüste, das Überschwemmungsgebiet südlich von Worpswede. Hier zeigt sich wieder einmal: Gott ist ein Gott der Stille. Dort offenbart er sich. In der Einsamkeit der Städte, im Herzen der Nacht, in der dunkelsten Stunde, draußen auf dem Meer, oben in den Bergen, im Säuseln eines leichten Windes. Oder im Alleinsein vor dem "Radioapparat", ganz für mich, aber doch verbunden.
Es gilt das gesprochene Wort.
Literaturangaben:
- D.Roether, H.Sarkowcz, C.Zimmermann (Herg.), 100 Jahre Radio in Deutschland, Bundeszentrale für politische Bildung | bpb, Bonn 2022.