Lichtsucherin

Morgenandacht
Lichtsucherin
16.01.2016 - 06:35
27.12.2015
Ulrike Greim

Sie hatte ihn sich gewünscht. Und zu Weihnachten bekommen. Dieses Ding, das ihr beim Aufstehen helfen soll. Einen Wecker, der anstelle eines Pieptones Vogelzwitschern bringt. Und vor allem: den Sonnenaufgang simuliert. Ganz langsam. Eine halbe Stunde Vorlauf. Und exakt wenn sie aufstehen will: 6.15 Uhr ist er ganz hell. Das soll den Körper vorbereiten, die Melatonin-Produktion reduzieren, das Aufwachhormon anregen.

Sie hatte ihn sich gewünscht. Und nun die erste Woche ausprobiert. Naja – geht so: Es ist etwas sanfter, ein behutsames Heineingleiten in den Tag. Mit dem Kaffee in der Hand sitzt sie am Frühstückstisch und denkt nach.

Sonne simulieren – das ist eigentlich der Pipi-Langstrumpf-Effekt: Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt. Wenn die Sonne im Winter erst gegen acht Uhr kommt, dann lass ich sie eben schon 6.15 Uhr strahlen. Der Markt verlangt das. Und mein Chef. Und die Schule der Kinder. Und ich selbst.

Der Januar lässt die Sonne dankenswerterweise schon ein ganz klein wenig eher aufgehen, als der Dezember. Aber immer noch ist es morgens dunkel. Und Menschen brauchen Licht.

Sie freut sich immer, wenn sie den Sonnenaufgang noch sehen kann, nachdem sie die Kinder in die Schule gebracht hat. Wenn sie überhaupt etwas mitbekommt vom Licht. Vom natürlichen.

Gerade in diesen Tagen braucht sie die Spaziergänge im Park. Die echte Sonne. Und seien es nur ein paar Minuten. Sie liebt das Spiel, wenn die Sonnenstrahlen über die Bäume wandern und mal hierhin, mal dahin scheinen. Mal mild, mal kräftig. Nachmittags beeilt sie sich manchmal, noch ein Fitzelchen Sonne abzubekommen, bevor die untergeht. Ach Sonne – ich brauche Dich. So ein blöder Wecker kann mein Herz nicht erwärmen.

Sie ist eine Lichtsucherin. Sie sucht bei Tag und bei Nacht, wie Licht ins Leben kommt. Wie es Menschen hell machen kann. Das Herz aufleben lassen kann.

Die Sonne hilft natürlich immer. Manchmal ein Lied. Öfter: ein gutes Wort. Sei es aus einem Buch oder dem Radio. Am besten von einem Freund. Überhaupt: Freundschaft. Die Kinder.

Kann man eigentlich solches inneres Licht speichern? Wie in einer Solarzelle?

Sie lehnt sich zurück und schaut aus dem Fenster.

Als Kind konnte sie es. Sie sieht sich wieder am Lagerfeuer sitzen. Abends unter dem Sternenhimmel irgendwo im oberhessischen Bergland. Im Kinderzeltlager. Wie alt war sie da – zehn? Sie haben gesungen. Lieder aus aller Welt, Lieder von Gott. Eines liebte sie besonders: „Du ewiges Licht der heiligen Dreifaltigkeit, des einzigen, unnahbaren, ewigen Gottes“ Oder so ähnlich. Wie ging es gleich? Egal. Dreistimmig. Innig. Damals konnte sie es sehen – dieses Licht. Hell, nicht blendend. Allumfassend. Alles umschließend. Heilsam. Ewig.

Sie war Teil dieser hellen Ewigkeit. Lange ist es her. Und noch merkwürdig präsent. Es berührt sie, daran zu denken. Es ist eine der schönsten Erinnerungen, die sie hat: nachts am Lagerfeuer dieses Licht zu sehen.

Bis jetzt hat sie es bewahrt wie einen Schatz. Auch vergraben, auch vergessen. Aber jetzt ist er wieder da.

Sie legt behutsam die Hand auf die Brust, als wollte sie dieses Licht behüten. Und genau das will sie ja auch: dieses Licht hüten wie einen Augapfel. Damit es nicht ausgeht. Damit es bleibt. Ein anhaltendes weihnachtliches Licht.

Ein Licht, dass alle Dunkelheit aufnimmt. Gegen das die Finsternisse dieser Welt nichts sind. Nichts.

Warum hatte sie es vergessen? Auf das Dunkle gestarrt, bis ihr kalt wurde. Die Abgründe ihrer Klienten. Die täglichen Bilder in den Nachrichten. Es war ihr abhanden gekommen, dieses Bild. Sie hatte es aber immer gesucht.

Der Wecker zeigt 6:39 Uhr. Es ist Zeit, die Familie zu wecken. Du ewiges Licht – leuchte mir. Ich will hell werden mit dir.

27.12.2015
Ulrike Greim