Unverfügbarkeit

Morgenandacht
Unverfügbarkeit
12.10.2020 - 06:35
12.10.2020
Jörg Machel
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Es schien als hätten wir alles im Griff. Dann kam Corona und hat uns kalt erwischt. Nun bauen wir auf einen Impfstoff, der uns von all den Zumutungen der Pandemie erlösen wird. Und dann – alles unter Kontrolle?

 

Ja, die Überwindung allen Übels ist der Traum der Neuzeit. Aber dieser Traum wird ein Wunschtraum bleiben, ein Wunschtraum mit gefährlichen Nebenwirkungen. Davon handelt das Buch „Unverfügbarkeit“ von Hartmut Rosa. Hartmut Rosa ist Soziologieprofessor an der Universität Jena. Mich hat dieses Buch als Theologe und Seelsorger fasziniert.

 

Meine Urgroßeltern haben einen Bauernhof bewirtschaftet, etwa 20 Hektar. Groß genug, um die Familie zu ernähren. Aber nicht groß genug, um gegen die Unbilden des Lebens gänzlich gewappnet zu sein. Ein trockenes Frühjahr, eine verregnete Ernte, ein Unfall auf dem Feld, eine Seuche im Schweinestall – vieles konnte die kleine Wirtschaft in die Bredouille bringen.

 

Aber meine Vorfahren waren fromme Leute. Sie wussten sich in Gottes Hand. Nachbarn trafen sich zu Bibelstunden in unserem Haus, so erzählte mir die Großmutter, und sie diskutierten die Bibel. Sicher sprachen sie auch darüber, dass es nicht gerecht sein kann, wenn einer fromm ist und dennoch ins Unglück stürzt. Was will Gott uns sagen mit dem, was uns an Bösem passiert?

Die Frage bleibt letztlich unbeantwortbar, aber die Leute wussten, wem sie sie stellen konnten und das war Gott. Man konnte ihn bitten, ihn anklagen, ihn beschimpfen, sich eventuell von ihm abwenden, aber man war überzeugt, dass er die richtige Adresse für Dank und Klage ist.

 

Dieser Konsens gilt so nicht mehr. Das Wetter kommt nicht von Gott, sondern von den Azoren. Es ist berechenbar geworden und wir können darauf reagieren.

Mit der nüchternen Analyse der naturwissenschaftlichen Zusammenhänge sind wir weit gekommen. In Mitteleuropa gibt es keine Hungersnöte mehr, wie noch zu Zeiten meiner Urgroßeltern. Wir Menschen sind in einer Weise abgesichert wie noch in keinem Jahrhundert zuvor.

 

Unser Sicherheitsgefühl ist erstaunlicherweise nicht größer geworden. Es gibt Untersuchungen, die vermuten lassen, dass sogar das Gegenteil der Fall ist.  Wer alles in den Griff bekommen will, muss feststellen, dass das nicht gelingt. Immer bleibt ein Rest, der unverfügbar ist und der ängstigt uns ganz unverhältnismäßig.

 

Gerade in den letzten Monaten der Pandemie ist beides zu beobachten. Einerseits erleben wir, dass eine gute und kluge Vorsorge die Ausbreitung des Coronavirus sichtbar eingrenzen konnte. Auf der anderen Seite greifen wir dabei in so viele Lebensbereiche ein, dass manchmal nur schwer zu entscheiden ist, ob der Schaden, der dadurch entsteht, nicht ähnlich groß ist.

Für mich ist das ein Grund zur Demut. Ich muss mir eingestehen, vieles bleibt unserer Verfügbarkeit entzogen.

 

Hartmut Rosa zeigt an vielen Beispielen, dass der Traum von der allumfassenden Verfügbarkeit nicht nur unrealistisch ist, sondern in einem Albtraum enden würde, der letztlich zu Lasten unserer Freiheit ginge. Wir werden damit leben müssen, dass weder die Wissenschaft, noch der Sozialstaat die Risiken des Lebens auszuschalten vermögen.

 

Und so bleibt für mich und für viele das alte Wort vom Gottvertrauen aktuell. Es tröstet mich, dass ich trotz aller planbaren Sicherheiten gerade im Bereich des Unverfügbaren ein Gegenüber habe, dem ich nicht viel anders gegenübertrete als meine Urgroßeltern: mit bitten, mit klagen, mit beschimpfen und manchmal mit der Entschuldigung für meine eigene Dummheit.

12.10.2020
Jörg Machel