Schmerz

Morgenandacht
Schmerz
10.11.2020 - 06:35
09.11.2020
Anette Bassler
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Als es mir wehe tat im Herzen

und mich stach in meinen Nieren,

da war ich ein Narr und wusste nichts,

ich war wie ein Tier. (Psalm 73,21f)

Wer jemals richtig Schmerzen hatte, kennt dieses Gefühl. Man ist nicht mehr man selbst, man ist ganz Schmerz. Weglaufen geht nicht. Ablenkung funktioniert nicht. Kein Entkommen. Der Schmerz ist allmächtig. Kein klarer Gedanke mehr. Das Hirn ist nur noch damit beschäftigt, dieses Bohren und Beißen und Brennen in mir zu produzieren, dieses Wummern und Pulsieren. Ich bin wie ein Tier. Ich bin irgendwie gar kein richtiger Mensch mehr, wenn der viehische Schmerz mich im Griff hat. Und das ist nicht nur so, wenn der Körper leidet, das ist auch so, wenn mir das Herz vor Kummer bricht. Seelische Schmerzen sind auch Schmerzen.

Die Stimme in einem Psalm, die vom Schmerz in Herz und Nieren spricht, ist zwar Jahrtausende weit weg, aber ganz nah. Auch wenn wir heute wissen, dass selbst der Schmerz, dieses urmenschliche Gefühl, kulturell bedingt ist. Wer was wie als Schmerz spürt, das war und ist sehr unterschiedlich. Denn Schmerz entsteht im Gehirn. Wenn wir extrem verletzt sind, dann sorgt der Körper mit seinem Endorphin sogar dafür, dass wir im ersten Moment überhaupt nichts spüren, damit wir nicht ausflippen. Erst später sagt das Gehirn: Aua!

Mein Gehirn ist manchmal sogar so tückisch, dass es Schmerzen produziert, wo gar keine Verletzung ist. Und das ist wirklich schier zum Verzweifeln: Wenn der Arzt nichts feststellt und der Schmerz mich trotzdem fast umbringt. Bin ich denn verrückt? Ich bilde mir das doch nicht ein! Nein, du bildest dir das nicht ein, und du bist auch nicht verrückt. Der Schmerz ist da, du fühlst ihn, er ist kein Hirngespinst. Dein Hirn schlägt noch Alarm, auch wenn das Feuer gelöscht ist. Ich kenne was davon. Als mich ein gemeines Insekt überfallen und gebissen hatte, schlug mein Gehirn über ein Jahr Großalarm und befahl der Haut Brennen und Stechen und Erröten beim allerkleinsten Druck. Furchtbar!

„Schmerzfrei“ zu sein ist etwas, was man nur dann zu schätzen weiß, wenn man weiß, wie wunderbar es ist, wenn das Gewitter in Körper und Seele sich langsam verzieht. Am Ende kann man gar nicht den Augenblick benennen, wann es vorbei war. Schmerzfrei zu sein ist eine Erlösung.

„Schmerzfrei“ ist aber auch ein Modewort geworden. Jemand sei in dieser oder jener Beziehung völlig schmerzfrei, heißt es manchmal mit einer Mischung aus Faszination und Furcht. Allzu viel von solcher Unempfindlichkeit wünsche ich mir nicht. Ich möchte keine schmerzfreien Menschen. Schmerzfrei und leidensunempfindlich zu sein, ist für den christlichen Glauben kein Ideal. Im Gegenteil: wer glaubt, wird in mancher Hinsicht sogar schmerzempfindlicher, er wird mitleidsempfänglicher, sensibler. Man könnte die Bibel die Heilige Schrift des Schmerzes nennen. Kaum irgendwo kommen schmerzgeplagte Menschen bezwingender zu Wort und zu Gehör: „Ich bin wie ein zerbrochenes Gefäß.“ (Psalm 31,19) „Ich bin ausgeschüttet wie Wasser“ (Psalm 22,15) „Hilf mir aus dem Rachen des Löwen!“ (Psalm 22,21). Jesus ist der „Schmerzensmann“, Genosse aller Schmerzgeplagten. Wir Christen haben keine Gottesvorstellung von einem unempfindlichen und unbewegten höheren Wesen. Wäre Gott schmerzfrei – ich könnte nicht beten. Aber das ist er nicht, überhaupt nicht. Gott hat Liebeskummer, wenn er verlassen wird, und es zerreißt ihn, wenn Unrecht geschieht.

Ich bin vielen Menschen begegnet, die Schmerz leiden mussten, oft mit Bewunderung, was sie ertragen, mehr noch, was sie mit Würde tragen. Je länger, desto mehr habe ich erfahren, dass ich ihren Schmerz nicht heilen kann. Ich kann nur anerkennen: Ja, so weh tut das! Ohne zu bagatellisieren oder zu relativieren oder schönzureden. Ja, so furchtbar weh tut das, und ich kann dir nichts abnehmen. Aber ich bewundere, dass du das aushältst.

Erklär mir, wie.

Sag: Wie schaffst du das?

 

Es gilt das gesprochene Wort.

09.11.2020
Anette Bassler