Nie vergessen. Anders machen.

Morgenandacht
Nie vergessen. Anders machen.
02.11.2019 - 06:35
18.07.2019
Petra Schulze
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Neun Jahre alt ist Hans Dieter Osenberg, als er Zeuge von Unvorstellbarem wird. Nie wird er diesen Tag vergessen. Einundachtzig Jahre ist das her. Verwandte hatten seine Familie eingeladen, in Düsseldorf am Sankt Martinsumzug teilzunehmen.

 

Hans Dieter Osenberg:

Am 10. November 1938 fahre ich mit der Mutter und dem kleinen Bruder dorthin. Die Straßenbahn vom Bahnhof aus ist kaum in die große Geschäftsstraße eingebogen, da stockt mir der Atem. Berge von Geschäftsauslagen und Hausrat auf den Bürgersteigen. Immer wieder muss die Bahn halten. Denn aus den oberen Stockwerken werden Stühle, Schränke, Teile von Herden und Klavieren bis auf die Straße geworfen. Ich spüre die Aggressivität, und weiß doch alles nicht einzuordnen.

 

In der Nacht vom neunten auf den zehnten November 1938 brennen im damaligen Deutschen Reich Synagogen und jüdische Gemeindehäuser. Juden und Jüdinnen werden ermordet, gedemütigt und verhaftet. Viele Gemeindemitglieder der evangelischen Kirchen beteiligen sich damals an diesen Verbrechen oder nehmen sie hin. Ja schlimmer noch, erzählt Hans Dieter Osenberg, heute Pfarrer im Ruhestand:


Hans Dieter Osenberg:

Die Erwachsenen sind wie gelähmt und stumm, ermahnen uns Kinder, einfach nicht hinzusehen. Und am Abend tatsächlich der Umzug. Am Tag des großen Judenpogroms in Deutschland.
 

Zur Ehre und zum Lob des barmherzigen heiligen Martin ziehen wir mit unseren leuchtenden Lampions über die Straßen. An der Spitze Sankt Martin auf seinem Schimmel. Immer wieder müssen Hindernisse überklettert werden. Möbelteile, Scherben, Teppiche. Männer in braunen Uniformen stürmen in Hauseingänge.

 

Und die Musikkapelle intoniert ohne Erbarmen immer wieder das alte Lied vom barmherzigen Sankt Martin.

 

Hans Dieter Osenberg:

Nie werde ich begreifen, dass die Väter und Mütter, an deren Händen doch viele Kinder gingen, an dieser schrecklichen Diskrepanz nicht erstickt sind. Und sie war ja noch viel schlimmer, als wir es auf den Straßen sahen, weil zur gleichen Zeit in den Häusern Juden brutal überfallen, geschlagen und verhaftet wurden.

 

Diese Nacht markiert einen Übergang: Von der Diskriminierung und Ausgrenzung der deutschen Juden seit 1933 hin zur systematischen Verfolgung und gezielten massenhaften Vernichtung der Juden. Doch: Die Wurzel des christlichen Glaubens liegt im Judentum. Jesus war Jude. Und so gibt es heute für Christinnen und Christen nur eins: entschieden gegen alle Formen der Judenfeindschaft einzustehen.

Damit das gelingt, gibt es zum Beispiel Schülerpraktika. Lars Plha vom evangelischen Theodor-Fliedner-Gymnasium aus Düsseldorf hat die Gelegenheit genutzt und ein Praktikum in der Jüdischen Yitzhak-Rabin-Grundschule Düsseldorf gemacht. Sein Fazit:

 

Lars Plha:

Also, wenn man dann so sieht, wie die wirklich sind, und nicht nur Sachen weiß, die man halt von irgendwem gehört hat, dann hilft es einem auf jeden Fall schon.

 

Lars Plha bereitet in seiner Freizeit mit einem Team den Kindergottesdienst in seiner evangelischen Kirchengemeinde vor. Interessant an der jüdischen Schule findet er:

 

Lars Plha:

Zum einen der Religionsunterricht war natürlich anders als bei uns. Und zum anderen wurde da auch noch Russisch unterrichtet und Hebräisch, weil die Gebete sind ja bei denen alle auf Hebräisch. Und da hatten die dann kompletten Unterricht auf Hebräisch. (...) Und dass die auch sehr viele Gebete auswendig können. Ein paar hatten die jetzt auch in so einem kleinen Gebetsbuch, die die dann im Religionsunterricht gebetet haben. (…) Und an deren Schulalltag war halt auf jeden Fall anders, dass sie sehr viel gebetet haben. Und bei uns, wir sind ja jetzt eine evangelische Schule, da wird eigentlich vergleichsmäßig zu denen relativ wenig gebetet.

 

Sich kennen lernen und die Unterschiede wertschätzen. Erst recht nach dem Anschlag auf die Synagoge in Halle ist das ein guter Weg, hin zu einem „Nie wieder“. Offen bleiben für andere. Sich interessieren füreinander und sich dabei selbst kennen lernen und verändern. Mehr beten vielleicht. Das täte gut. Beten statt Hassparolen schreien.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Quelle: O-Töne von Hans Dieter Osenberg aus: Evangelische Kirche im WDR, Das Geistliche Wort am 11.11.2012 auf WDR 5, „Als man Sankt Martin Schande bereitete“ von Pfarrer Hans Dieter Osenberg, Saarbrücken

 

Mehr Informationen:

Jüdische Grundschule: https://jgd.de/yitzhak-rabin-schule/

Pogromnacht: https://bildungsserver.berlin-brandenburg.de/unterricht/faecher/gesellschaftswissenschaften/geschichte/themen/75-jahre-reichspogromnacht/

18.07.2019
Petra Schulze