Waffen und Wehrlosigkeit

Morgenandacht

Gemeinfrei via Unsplash/ Bruno van der Kraan

Waffen und Wehrlosigkeit
Morgenandacht von Evamaria Bohle
16.02.2023 - 06:35
29.01.2023
Evamaria Bohle
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Die Sendung zum Nachlesen: 

Achtung! Zeitreise. Wir befinden uns etwa 1100 Jahre vor unserer Zeitrechnung. Mit unseren Waffenbrüdern kauern wir in einer finsteren Höhle. In der Nähe des Toten Meeres. Atemlose Anspannung. Unser Verfolger ist nah. Und dann plötzlich dieses beklemmend-großartige Gefühl, im Vorteil zu sein.

Ich liebe an meiner Religion auch, dass ihre Texte dazu einladen, sich in lang vergangene Zeiten, in andere Sprach- und Denkwelten zurücktransportieren zu lassen. Heute morgen in die „Game of Thrones“-artigen Erzählungen vom Machtkampf zwischen Saul und David. Sehr anstrengende Geschichten. Viel machtpolitischer Irrsinn. Viel Gewalt. Angriffs- und Verteidigungskriege werden geführt – alle haben namenloses Leid und Tod im Gepäck. „Keine Gewalt“ ist nicht der Weg dieser Könige. „Du sollst nicht töten!“- ein Gebot ohne Konsequenz. Es ist ein krasser Stoff. 

Im Resonanzraum der biblischen Geschichten vibrieren menschliche Erfahrungen aller Art.  Dass Machtgier und Gottesglaube, Alleinherrscherei und Menschenliebe nicht gut zusammenpassen ist so ein Menschheitsthema. Und die unbekannten Erzähler der Geschichten schreiben meinen G‘tt in ihre Kriege, in die Gewaltgeschichten hinein. Das ist schwer zu ertragen. Man muss tief hinein in die Höhle, um etwas anderes zu sehen.

Wir kauern zwischen den Waffenbrüdern Davids, die sich vor Saul und seinen Elitetruppen verstecken. Früher waren die beiden einander nah. Saul ließ David an sich heran, wenn niemand mehr an ihn herankam. Musik verband sie. Das ist nicht lange her, aber heute sind sie Jäger und Gejagter. Feinde. Und die Höhle wird zur Falle. Denn Saul steht plötzlich im Eingang.

Doch dann – unerwartet – wendet sich das Blatt. Denn Saul ist allein. Tod dem Tyrannen. Allen Tyrannen. David, der Gejagte, könnte den König, den Verfolger, töten. Und der Dolch blitzt auf. Aber es wird kein Blut fließen. Saul wird leben. In der Dunkelheit der Höhle wird etwas erkennbar, was entwaffnend wirkt.

Die Szene ist sogar komisch. Und gar nicht königlich. Oder heldenhaft. Was geht da vor? Luther übersetzt verschämt, dass Saul in die Höhle ging, „um seine Füße zu bedecken“. Jüngere Übersetzungen werden deutlicher. Der angezählte Potentat hockt allein, mit nacktem Hintern in der Höhle. Das Gewand heruntergelassen. Wehrloser geht es kaum. Der König kackt. Und ein Dolch blitzt auf. Davids Dolch.

Ich liebe an meiner Religion, dass ihre heiligen Texte mitunter so sperrig sind. So wenig zimperlich. Saul überlebt das Intermezzo in der Höhle. David schneidet nur einen Zipfel vom königlichen Gewand ab, als Beweismittel. Und verhandelt später damit einen brüchigen Frieden. Er wird nicht lange halten. Die Machtgier dessen, der seine Macht verliert, ist zu groß. Aber für einen wichtigen Moment schweigt der Hass.

Die Höhle wird mir zur Protagonistin der Geschichte. Ohne sie kein Frieden. Im Schutze ihrer Dunkelheit zeigen sich Verfolger und Verfolgter als das, was sie sind: als wehrlose Menschen. Und wo Wehrlosigkeit Platz hat, ist die Gewalt eingeladen, eine Pause zu machen. Wehrlosigkeit kann entwaffnen. Davids Dolch blitzt auf in der Dunkelheit, aber er wird nicht zur Waffe. Schwerter zu Pflugscharen. Keine Gewalt. Ich feiere die Höhle. Ich feiere alle Räume, in denen wir einander als wehrlose Menschen erkennen können.

In solchen Räumen kann der Friede Gottes beginnen, der höher ist als alle Vernunft. - Ende der Zeitreise.

Es gilt das gesprochene Wort.

29.01.2023
Evamaria Bohle