Welttag der Poesie – Bücher verleihen Flügel

Morgenandacht
Welttag der Poesie – Bücher verleihen Flügel
21.03.2020 - 06:35
30.01.2020
Petra Schulze
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Morgen ist Sonntag. Zeit. Zeit für mich. Zeit für Dinge, die ich mag. Lesen zum Beispiel. In einem Buch, so richtig aus Papier. Viele habe ich ja längst in meiner digitalen Bibliothek. Auf dem Tablet, dem Handy oder dem digitalen Lesegerät. Viele lasse ich mir vorlesen. Es gibt tolle Hörbücher. Die Bibel ist auch dabei.

Lesen. Vielleicht jemandem vorlesen. Einem Kind oder dem Partner. Mit einer Freundin über das neue Lieblingsbuch reden. Bücher sind Seelennahrung, entführen mich in andere Welten, bringen mich zum Lachen oder Weinen, auch zum Gruseln. Bücher bilden und weiten den Geist. Sie werden zur Therapie eingesetzt. Bibliotherapie, das heißt: Therapie mit Büchern. Mit Romanen, Sachbüchern und Poesie. Die Wirkung ist wissenschaftlich nicht eindeutig nachgewiesen. Aber es ist ja klar: Seit Jahrhunderten, ja Jahrtausenden werden Legenden und Mythen, Märchen und Gedichte, Heilige Schriften und wichtige Lebens-Regeln erst mündlich und dann schriftlich weitergegeben. Denn: An dem, was andere erlebt haben, kann ich mich ausrichten. Es hilft mir, wenn ich lese, wie jemand mit seiner schweren Krankheit fertig wurde. Oder mit Lieblosigkeit. Mit Streit. Mit Trennung und Tod. Es hilft mir zu lesen, wie eine Liebe gelingen kann oder eine Familie oder eine Wohngemeinschaft. Wie Diktaturen überwunden werden können und wie sich die zartesten Seelen in einer kalten, rauen Welt Überlebensschlupflöcher in ihren Gedichten suchten. Es hilft mir zu wissen, wie Worte wärmen und duften und satt machen.

Schon im 18. Jahrhundert sollen Ärzte ihren Patienten Bücher verordnet haben. (1) Es gibt Bücher, die sind mir zu Lebensbüchern geworden. Das Märchenbuch, aus dem uns unsere Großmutter vorgelesen hat. Lebensberichte von Menschen, die unbeirrt ihren Weg gingen – oft unglücklich und doch der einzig richtige.

Gedichtbände wie die von Rose Ausländer, Mascha Kaléko und Hilde Domin wichen mir nie von der Seite. Heute ist Welttag der Poesie – da werde ich gern am Morgen und am Abend eines meiner Lieblingsgedichte lesen.

Dass Bücher noch viel mehr als Seelenwegweiser sind, das hat der evangelische Theologe Friedrich Schorlemmer gezeigt. „WORTmacht und MACHTworte“ hat er sein Buch überschrieben. „Eine Eloge an die Leselust“. In der ehemaligen DDR musste Friedrich Schorlemmer viele verbotene Bücher verstecken. Er lernte Literaten kennen, deren Bücher verboten wurden. Er ließ verbotene Literatur einschmuggeln. Schorlemmer schreibt über Reiner Kunze, Max Frisch, Heinrich Böll, Christa Wolf und viele andere. Wie sie den Horizont weiteten und das Undenkbare… wurde schon fast Wirklichkeit. Machte mutig.

Ich denke an die Jugendlichen, die Gebete und Lieder der Ökumenischen Gemeinschaft von Taizé in die DDR und die Osteuropäischen Länder schmuggelten. Texte, die Christinnen und Christen beider Konfessionen Nahrung und Stärkung wurden. In einer Umwelt ohne Gott.

Und ich denke an den Theologieprofessor Klaus-Peter Hertzsch aus Jena, der zur Biblischen Geschichte von Jona und dem Wal dichtete:

 

Ihr sollt in Häusern und in Hütten

Den Herrn um sein Erbarmen bitten.

Vielleicht ist es noch nicht zu spät,

dass unsre Stadt nicht untergeht.“ (2)

 

Vielleicht.

Noch nicht zu spät.

Ein Hoffnungswort. Aus dem Buch der Bücher, aus der Bibel.

Noch können wir etwas ändern.

Am Klimawandel. Am Hunger. Am Krieg. An der Börse. Je nachdem.

Heute am Welttag der Poesie und morgen am Sonntag ist der richtige Anlass, über die Kraft der Poesie und Schriftstellerei nachzudenken.

Denn immer noch und immer wieder lese ich, was mir zuvor undenkbar schien. Und in diesem Moment wird es - immer mehr - zur Wirklichkeit. Weil es mutig macht. Den Blick hebt und mich nicht aufgeben lässt. Bücher verleihen Flügel.

 

 

(1) https://www.zeit.de/kultur/literatur/2016-09/bibliotherapie-literatur-lesen-heilmittel (letzter Abruf 20.08.2018)

 

(2) Friedrich Schorlemmer: WORTmacht und MACHTworte, RADIUS-Verlag GmbH Stuttgart, 2018, S. 122.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

30.01.2020
Petra Schulze