Abspringen vom Vorwurfskarussell

Wort zum Tage
Abspringen vom Vorwurfskarussell
29.08.2020 - 06:20
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Ich bin ein Fan der „Trocknertheorie“. In den Känguru-Chroniken, verfasst vom Berliner Autor Marc-Uwe Kling, wird dieser Theorie ein literarisches Denkmal gesetzt. Der Zusammenhang sei kurz erzählt: Der Ich-Erzähler lebt mit einem Känguru zusammen. Das ist vorlaut, liebt Schnapspralinen und hat noch einige andere mehr oder weniger liebenswerte Macken. Zuspätkommen gehört dazu. Grund genug ihm das vorzuwerfen. Was dann geschieht, kennen die meisten: Auf einen Vorwurf folgt dann auch schon mal der Gegenvorwurf. Dabei ist völlig egal, ob das eine was mit dem anderen zu tun hat. DU kommst immer zu spät. Du hast auch schon mal die Tickets verbummelt. Und du räumst die Küche seit Jahren nicht auf. Nach und nach schalten sich in der Szene im Buch mit dem Känguru immer mehr Menschen ein, die sich auch alle möglichen Dinge gegenseitig an den Kopf werfen. Die eifersüchtige Ehefrau, der genervte Ehemann und so weiter. Immer heftiger wird die Situation, und leider auch immer heftiger der darauf antwortende Gegenschlag. Was bleibt am Ende? Nichts als im Kreis bewegte heiße Luft – wie in einem Trockner nach 1000 Umdrehungen. Am Ende seufzt das Känguru ein Zitat – natürlich falsch zugeordnet: „Round and round and round it goes, where it stops, nobody knows.“ Es dreht sich und dreht sich, und keiner weiß, wohin das führt. Es führt nirgendwo hin, wenn sich das Vorwurfskarussell dreht. Gar nicht erst aufzuspringen, gelingt nicht immer. Eher selten sogar. Verzeihen ist das Abspringen vom Vorwurfskarussell, auch auf die Gefahr hin, dafür nicht gleich der Gewinner zu sein. Verzeihen hat mit Loslassen und Verzichten zu tun. Aber nicht mit einem Verzicht, der einen schal-bitteren Nachgeschmack des am Ende doch zu-kurz-Gekommenen zurück lässt. Es geht darum, das, was sich an Schärfe und Schwere in jedem ausgesprochenen Vorwurf ins Herz des anderen einbohrt, zu entmachten. Es ist wie das Entmachten, das Auflösen eines Fluches. So viel Kraft kann im Verzeihen stecken. So viel Kraft liegt in uns, wenn wir sie zulassen. Warum sollten wir das? Weil wir damit die Tür ins Freie aufschließen. Selbst uns wieder öffnen können und einen Blick dafür bekommen, was jenseits des Vergangenen jetzt möglich ist. Klingt nach großem Programm. Geschieht aber tagtäglich. Verzeihen kann nicht erzwungen oder gefordert werden. Aber unser Herz verlangt danach, neu beginnen zu können.