Das Geheimnis der fallenden Zeit

Wort zum Tage
Das Geheimnis der fallenden Zeit
15.04.2015 - 06:23
30.03.2015
Pastor i.R. Dietrich Heyde

„Zwei Uhr sechsunddreißig“ lautet eine Geschichte des Schriftstellers Alfred Polgar (1873–1955), den Literaturkritiker einen „Virtuosen des aufschreckenden Pianissimo, der leisen Töne und treffenden Pointen“ nennen. In seinem Prosastück geht es um eine Uhr, die vor zwanzig Jahren stehen geblieben ist. An einem Frühlingstag, genau um 2 Uhr 36. Nun lässt sich über eine stehen gebliebene Uhr vieles sagen. Worin aber steckt ihr Besonderes, ihre geheimnisvolle Pointe?

 

Sie besteht nach Polgar darin, „dass sie, einmal am Tag und einmal in der Nacht, in einem einzigen bestimmten Moment, obgleich sie seit zwanzig Jahren keine Zeit mehr angibt, doch die Zeit angibt! Bei der Uhr, von der hier erzählt wird, geschieht dies eben präzis sechs Minuten nach halb drei. In diesem Moment, alle zwölf Stunden einmal, erfüllt die Uhr ihre Lebensaufgabe, indem sie ganz genau mitteilt, wie spät es ist.“

 

Die Nutzanwendung ergibt sich mühelos, sagt Polgar: „Alle Uhren zeigen richtig, man muss nur im richtigen Augenblick auf sie sehen. Alle Menschen sind gut, man muss nur die Chance haben, sie bei ihrer Güte zu ertappen.“[1]

 

 

Offensichtlich kommt alles auf den richtigen Zeitpunkt an – bei der Uhr, beim Menschen, ganz allgemein im Leben! Doch woher weiß ich den (rechten Zeitpunkt)? Diese Frage hat schon die biblische Weisheit beschäftigt. Im Buch des Predigers (Kohelet) heißt es: „Ein jegliches hat seine Zeit, alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde. (Prediger 3,1ff).

 

Wenn alles im Leben seinen Zeitpunkt, seinen „Kairos“ hat – dann kommt es darauf an, die Gunst der Stunde zu nutzen und nicht kleiner zu sein als der Augenblick, der uns Menschen gegeben ist. Doch wie kann das gelingen? Wie komme ich dahin, stets im richtigen Augenblick auf die Uhr zu schauen und die Menschen bei ihrer Güte zu ertappen (wie es bei Polgar heißt)?

 

Entdecke das Geheimnis der fallenden Zeit, würde der Prediger (Kohelet) antworten. Um es zu lüften, müsst du wissen, dass sich wohl für uns Menschen, aber nicht für Gott die Zeit in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gliedert. Für Ihn ist alles Heute. Ein ewiges Jetzt.

 

Mit anderen Worten: Gottes Zeit ist immer. Seine Uhr bleibt nicht stehen und kennt kein Vergehen. Sie kennt nur den rechten Augenblick, der ewig ist. Und in dem sieht Gott uns Menschen an – in Liebe. Wer darum sich und die Welt im Lichte Gottes sieht, der weiß um den richtigen Augenblick und ertappt die Menschen bei ihrer Güte.

 

[1] Alfred Polgar, Im Lauf der Zeit, Rowohlt Taschenbuch Verlag Hamburg 1954, S. 94

30.03.2015
Pastor i.R. Dietrich Heyde