Kairos

Wort zum Tage
Kairos
02.08.2019 - 06:20
13.06.2019
Julia Rittner-Kopp
Sendung zum Nachhören
Sendung zum Nachlesen

Vivaldis Vier Jahreszeiten sind durchsichtig geworden. Die Notenblätter, vergilbt, in alter Schrift, liegen wie zufällig übereinander geworfen oder wie vom Wind verweht. Sie bilden einen riesengroßen hauchdünnen Vorhang auf der Bühne. Das Ballett-Publikum sieht durch den Vorhang hindurch auf die Tänzerinnen und Tänzer. Je nach Licht tauchen sie auf, sind klar, werden unscharf oder verschwinden. Und Vivaldi lässt dazu Wind und Wetter tanzen. Die vertraute Musik erklingt modern und leicht verfremdet. Das Stück des Choreografen Wayne McGregor heißt nicht „Die vier Jahreszeiten“ sondern es heißt: „Kairos“. So wie der eine unwiederbringliche Moment im Heute und Hier und Jetzt. Keine Zeiten und Jahreszeiten, keine Dauer, keine Frist, kein Zögern. Kairos. So geht Tanzen. Die Tänzerinnen und Tänzer müssen ganz im Hier und Jetzt sein. Hellwach. Dancing on the point, auf den Punkt - so heißt Spitzentanz im Englischen. Das ist hohe Kunst und richtig harte Arbeit. Für das Publikum aber sieht es leicht und schwerelos aus. So wie die Figur des Kairos aus der griechischen Mythologie. Der hat nämlich kleine Flügel an seinen Füßen. Kairos ist einer der beiden griechischen Zeit-Götter. Anders als Chronos, der Gott der vergehenden, messbaren Stunden-Zeit, ist Kairos ein junger Mann, unternehmungslustig, ein Luftikus, schnell und leichtfüßig unterwegs - mit seinen Flügel-Füßen. Wesentlich auffälliger als die Füße ist seine Frisur. Kairos hat lange, wallende Haare an beiden Seiten des Kopfes, aber sein Hinterkopf ist kahl, eine Glatze. Es ist also unmöglich, ihn dort am Schopfe zu packen und festzuhalten. Das geht nur ganz genau in dem Moment, wo er vorübergeht. Im Nachhinein gelingt es nicht. Im Vorhinein ebenso wenig: Langes Überlegen und Planen hilft gar nicht beim Kairos. Die Gelegenheit am Schopfe packen - daher kommt diese Redewendung. Ich muss mich entscheiden. Jetzt. Hier. Aufmerksam sein. Nicht an das denken, was war, nicht an das, was sein wird. So und nicht anders geht Tanzen. Und so geht Leben am intensivsten.

Übrigens, im Neugriechischen kann „Kairos“ auch einfach nur das Wetter bedeuten. Also das, was wir durch alle vier Jahreszeiten hindurch auf der Haut spüren und nicht beeinflussen können. Nur hinnehmen und annehmen. Und möglichst Wind und Wetter standhalten.

Und dabei aufmerksam bleiben. Für den anderen Kairos. Den, der uns tanzen lässt.
 

Es gilt das gesprochene Wort.

13.06.2019
Julia Rittner-Kopp