Wenn es mir das Herz zerreißt

Wort zum Tage
Wenn es mir das Herz zerreißt
30.07.2018 - 06:20
20.06.2018
Rainer Stuhlmann
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„Mein Herz ist schwer“, sagen wir, wenn wir traurig sind. „Das zieht mich runter.“ Manchmal wird mir das Herz schwer auch durch das Leiden anderer. Ich spüre, wie ihr Leid auch mich erfasst, weil es in mein Herz einzieht. Ich müsste schon mein Herz verschließen, um dieser Traurigkeit und diesem Mitleiden zu entkommen.

 

Ich erinnere mich gut an ein befreundetes Paar, das sich nach vielen Jahren schmerzvoll trennte und über seine Trennung hinaus gegeneinander Krieg führte. Mein Herz gehörte in dieser Zeit beiden. Aber beide erwarteten von mir, dass mein Herz nur ganz dem einen und nicht dem anderen gehörte, mit dem er selbst verfeindet war.

 

Ich war beider Freund. Und diese Freundschaft führte mich zu einer höchst unbequemen Position. Ich war nicht neutral. Da war kein gleicher Abstand zu beiden, der zur Streitschlichtung unumgänglich ist. Aber ich war weder ihr Paarberater noch ihr Mediator. Ein professioneller Berater muss sein Herz verschließen. Mein Herz aber war offen für beide. Es schlug für beide.

 

Ich fühlte mich zerrissen. Da war ich im Gespräch mit dem einen ganz bei ihm, und am nächsten Tag ganz bei dem anderen. Ich litt mit beiden. Aber dieses Mitleiden lähmte mich nicht. Es zog mich nicht runter. Im Gegenteil, es machte mich höchst lebendig. Und diese Lebendigkeit spürten auch die beiden. Sie übertrug sich geradezu auf beide.

 

Beide hätten mich damals schon ganz auf ihrer Seite gewünscht. Als einen, der ihnen Recht gibt, sie bestätigt, ihre Argumente teilt. Und nicht als einen, der so viel Verständnis für den anderen zeigt. Aber meine Zögerlichkeit, meine Zweifel, mein Widerspruch und meine Widersprüchlichkeit waren trotzdem für sie hilfreich. Das sagten beide, lange Zeit später.

 

Dass sie ihren Rosenkrieg schließlich beenden konnten, dazu brauchten sie eine professionelle Paarberatung, die vom Kopf und nicht vom Herz gesteuert wurde. Aber beide spürten, dass ich als Freund da bin, dessen Herz Platz für ihn hat und dass so groß ist, dass da auch Platz für ihren Feind ist, ihren einst so geliebten Feind. Mit etwas Abstand haben beide meine Haltung als ehrliche und aufrichtige Freundschaft empfunden.

 

Das menschliche Herz ist nicht nur fähig, Freundschaften zu bewähren. Es kann auch Freundschaften verraten. Es ist fähig, nicht nur bei sich selbst zu sein, sondern auch bei dem anderen und bei zwei anderen zugleich. Und darum bete ich manchmal: „Gott, neige mein Herz zu deinen Weisungen und nicht zur Selbstsucht!“ (Psalm 119,36)

 

Es gilt das gesprochene Wort.

20.06.2018
Rainer Stuhlmann