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Menschen erleben Furchtbares. Und Geheimnisvolles. Und Wunderschönes! Und weil die Seele Luft braucht, schreiben sie. Oder sie beten. Und manchmal liegt beides ganz nah beieinander ...
Der Herbst des Jahres 1821 auf Nantucket, einer schmalen Insel vor Amerikas Ostküste. Mildes Wetter, wie so oft im September. Alle paar Tage geht der Schiffsoffizier Owen Chase zum Leuchtturm bei Brant Point, schaut den Walfangschiffen nach, wie sie Segel setzen. Doch die allermeiste Zeit verbringt Owen Chase in seinem Haus. Er schreibt die Geschichte der Essex nieder, seine Geschichte. Sie erzählt von der „Gnade des Allmächtigen“[1] und einem Ungeheuer aus den Tiefen der See. Mitten im Stillen Ozean, Tausend Seemeilen westlich der Galapagosinseln, wird die Essex von einem gewaltigen Pottwal attackiert. Der ist beinahe so groß wie der Dreimaster, fast 28 Meter lang. Seine Schwanzflosse peitscht das Meer auf. Mit „zehnfacher Wut und Rachedurst“ greift er das Schiff an; wieder und wieder. Die Männer der Essex retten sich in die Fangboote, schauen ohnmächtig zu, wie der Dreimaster sich zur Seite neigt und dann langsam versinkt.[2]
„Du hast, oh Herr, den mächtigen Wal geschaffen. … Riesig sein Kopf, riesig sein Schwanz, … unvorstellbar seine unermessliche Kraft. Doch, ewiger Gott, du hast auch bestimmt, dass wir arme schwache Erdensöhne unser … täglich Brot verdienen, mit der mutigen Jagd auf das schreckliche Ungeheuer.“[3]
So lautet das Gebet eines Walfängers aus Nantucket, der Heimat von Owen Chase. Im 19. Jahrhundert hat der Wal ein völlig anderes Image als heute. Alte Seekarten zeigen riesige Monster, die ganze Schiffe verschlingen. Die Menschen damals sehen im Wal den Leviathan der Bibel, den gewaltigen Meerdrachen. Bei ihren Fangreisen erleben sie, was die Psalmen und das Hiob-Buch schildern: Die mächtigen Tiere spielen mit den kleinen Fangbooten, bringen das Wasser zum Brodeln ([4]). Für Owen Chase und seine Männer hat der Walfang religiöse Dimension. Auch deshalb, weil sie Licht ins Dunkel der Welt bringen. Denn aus dem Walrat – eine kristalline Flüssigkeit im Kopf des Pottwals – lässt sich feinstes Lampenöl gewinnen. Es brennt hell und rußt nur wenig. Die Fangschiffe dringen in alle sieben Weltmeere vor, dezimieren den Bestand dieser Geschöpfe. Owen Chase, Obermaat, 1. Steuermann, wird Chronist des Geschehens ...
„[Der Wal] kam geradewegs aus der Gruppe herausgeschwommen, ... in der wir drei seiner Artgenossen harpuniert hatten. [Er] war voller Zorn und Wut, als wolle er deren Leiden rächen. ... Innerhalb einer kurzen Zeitspanne hat er zwei getrennte Angriffe auf das Schiff unternommen, von denen beide… eindeutig darauf abzielten, uns den größtmöglichen Schaden zu zufügen...“ [5]
Und das mitten im Pazifik, irgendwo im Nirgendwo einer unendlichen Wasserfläche. 21 Mann Besatzung hat die Essex. Acht werden die Katstrophe überleben. Fast drei Monate dauert ihre Odyssee in kleinen Fangbooten, 3.500 Seemeilen, über 6.000 Kilometer. Dabei Stürme, Attacken anderer Wale, qualvoller Hunger, tödlicher Durst.
Als Owen Chase wieder in Nantucket ankommt, ist er ein anderer Mensch. Er schreibt: „Wenn ich über meine Erlebnisse nachdenke, vergieße ich selbst noch nach dieser langen Zeit oftmals Tränen vor lauter Dankbarkeit für unsere Rettung und preise Gott“. Im November 1821 erscheint sein Buch: „Bericht … über den erschütternden Schiffbruch des Walfangschiffs Essex von Nantucket“.
Dieser Tatsachenbericht fällt Jahre später Herman Melville in die Hände. Er wird die Vorlage für Moby Dick. Herman Melville übernimmt viele Details von der Walattacke auf die Essex für seinen Roman. Aber der Schriftsteller durchbricht die Rede vom Leviathan, dem Seemonster, er zeichnet ein anderes Bild. Es gibt Passagen, da spricht Herman Melville geradezu zärtlich, voller Ehrfurcht: Da weiden unter der Oberfläche die Herden der Wale, Kühe säugen ihre Kälber, blicken freundlich hinauf. Und in einem Kapitel versammeln sich die Wale sogar zu einem Gottesdienst, beten mit ihren mächtigen Flossen zum Schöpfer hinter den Sternen.[6] Hermann Melville entwickelt aus den Schilderungen von Owen Chase ein Plädoyer fürs Staunen: Das Geheimnis dieser Welt erschließt sich dem, der sie ehrfurchtsvoll betrachtet.
Es gilt das gesprochene Wort.