Morgenandacht
Nächstenliebe
28.10.2020 05:35
Sendung zum Nachlesen

Es gibt kaum eine Geschichte, die so sehr zur kulturellen DNA unseres christlichen Abendlandes gehört wie die eine: Der barmherzige Samariter. Christentum und Nächstenliebe. Für viele ist das identisch. Wer hätte gedacht, dass das christliche Europa hinter die Geschichte vom barmherzigen Samariter mal ein großes Fragezeichen setzen würde.

Wenn man in diesen Tagen ins Flüchtlingslager Moria schaut, dann sieht man tausende Menschen, die buchstäblich unter die Räuber und Schlepper gefallen sind. Aber- wo ist der barmherzige Samariter?

In der Geschichte vom barmherzigen Samariter geht es eigentlich um die Frage: Was macht Menschen glücklich? Was schenkt ihnen Frieden? Inneren und äußeren Frieden? Jesus sagt: Du sollst Gott lieben und deinen Nächsten wie dich selbst. Das macht glückselig. Gottes- und Nächstenliebe. Nun kommen in der Geschichte aber die Gelehrten und sagen: ich will ja gern Nächstenliebe üben. Aber wer ist denn mein Nächster? Meine Familie, mein Clan, mein Volk? Wo fängt das an mit dem Nächsten- und wo hört es auf?

Die Frage war umso brisanter, als es damals für die Menschen außerhalb der Großfamilie keinen Schutz gegeben hat. Weder Rente, noch Sozial- oder Krankenversicherung. Die Frage nach dem Nächsten war deshalb die Frage: um wen muss ich mich denn sonst noch kümmern- außer um meine Familie?

Da erzählt Jesus die Geschichte: „Stell dir vor, du gehst auf einer stark frequentierten Strecke und da liegt einer blutend im Straßengraben. Du siehst, wie ein Priester vorbeikommt, ein frommer Mann und dann noch ein Levit, ein gesetzestreuer Mann. Beide vielbeschäftigt, beide unter Termindruck. Und beide gehen sie vorbei und sagen sich: „Ich muss mich schon um so viel kümmern, das geht nicht auch noch. Aber wird sich schon einer kümmern“. Nächstenliebe ist ihnen schon ein Begriff. Aber eben nur ein Begriff.

Dann, erzählt Jesus weiter, kommt ein Ausländer vorbei, einer von den anderen. Die woanders hingehören. Und dieser Anders- oder eher Ungläubige, er schaut hin. Sieht das Blut, in dem der Überfallene liegt, seine Schmerzen. Und es rührt ihm das Herz. Also geht er hin, leistet erste Hilfe und bringt ihn zur Sozialstation- was damals ein Gasthaus war. Am nächsten Morgen gibt er dem Wirt Geld und bittet ihn, weiter für ihn zu sorgen, bis er wiederkommt. Dann zieht er weiter.

Das, so Jesus, ist Nächstenliebe. Nächstenliebe fängt an, wenn jemand hinschaut. Wenn jemand nicht nur hinschaut, sondern sich auch anrühren lässt von dem Leid, das da ist. Es geht nicht um das Leid der ganzen Welt. Es geht um das Leid, das mir vor die Füße geraten ist. Über das ich beinahe gestolpert wäre auf meinem Weg von A nach B.
Und wo hört Nächstenliebe auf? Sie ist nicht mehr nötig, wenn der Leidende außer Lebensgefahr ist. Der Samariter gibt Notfallhilfe, überweist den Kranken einem anderen zur Pflege und zieht dann weiter. Nächstenliebe ist hier: Menschenleben retten. Menschenwürde retten. Nicht mehr und nicht weniger.

In der Geschichte fragen die Gelehrten: „Aber wer ist denn nun mein Nächster? Wen soll ich lieben?“ Jesus gibt darauf keine Antwort. Er dreht vielmehr die Frage um. Wem bin ich ein Nächster geworden? Für wen war ich Nothelfer, von wem habe ich mich anrühren und unterbrechen lassen? Die entscheidende Frage ist die Frage an mich selbst. Als Mensch, als Deutsche, als Europäerin: Wem bin ich eine Nächste geworden?
Entscheidend ist die Frage an das christlich geprägte Europa: Für wen sind wir Europäer zu Nächsten geworden?

In Jesu Geschichte war es ein Samariter. Ausgerechnet einer, dem man das damals am allerwenigsten zugetraut hätte. Der ist dem Überfallenen ein Nächster geworden. Ein scheinbar Ungläubiger handelt wie einer, der glaubt.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

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