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Annette Bassler
Atheistisch an Gott glauben? Geht das überhaupt? Ja - es geht. Der Zweifel an Gott kann ein wichtiger Teil des Glaubens sein. Das ist das Vermächtnis von Dorothee Sölle. Wir wollen davon erzählen, weil ihr Denken uns geholfen hat bei der Suche nach einem tragfähigen Glauben.
Gerade in diesen bewegten Zeiten suchen viele nach etwas, das Halt schenkt und Haltung vermittelt. Sie suchen es oft weniger in Kirchen als an Orten, in denen sie sich existentiell berührt fühlen. In der freien Natur, in einer Ausstellung, einem Konzert oder im Yogastudio.
Die Sehnsucht nach Frieden und Gerechtigkeit ist ungebrochen. Aber viele verbinden diese nicht mit dem Glauben an einen Gott, der in die Welt eingreift. Denn warum greift Gott an so vielen Stellen eben nicht ein? Warum all das Leiden von Unschuldigen, wenn – wie es in einem Kirchenlied heißt- Gott "alles so herrlich regieret"?
Ursula Baltz-Otto
Das erste Buch von Dorothee Sölle erschien 1965 mit dem Titel: "Stellvertretung. Nach dem ‚Tode Gottes’". Hier setzt sie sich intensiv damit auseinander, wie man nach Auschwitz überhaupt noch von Gott reden kann. In einem Interview erzählt sie davon.
ich habe eine lange Zeit mit dem überkommenden Christentum gerungen. Unter dem Titel "Theologie nach dem Tode Gottes". Das war der Widerspruch einer jungen Frau, die mit dem Horror der Nazizeit nicht so schnell fertig wurde wie die herkömmliche Theologie, die ungestört von den realen Ereignissen weiterhin von der unbegrenzten Macht Gottes träumte und eine Frömmigkeit der Ergebung pries, ohne jeden Widerstand. (Sölle)
Annette Bassler
Die Empörung und Widerständigkeit von Dorothee Sölle hat mich von Anfang an fasziniert. Ich habe leidenschaftlich gerne Theologie studiert, aber Pfarrerin werden, das wollte ich nicht. Weil ich gedacht hab: für den Beruf bist du einfach nicht fromm genug. Aber Dorothee Sölle hat genau das als "Frömmigkeit der Ergebung" kritisiert. Die man besser hinter sich lassen sollte. Das war für mich wie eine Offenbarung. Und wie war das bei dir?
Ursel Ursula Baltz-Otto
Das war bei mir ähnlich. Auf meiner Suche nach Sinn bin ich in der Kirche nicht fündig geworden. Wohl aber in Konzerten oder in der Literatur. Und schließlich bei der Theologie von Dorothee Sölle. Bei ihr war das ähnlich wie bei mir. Ihre Eltern waren Akademiker, man war stolz auf Bildung und Kunst, man lebte in der Kultur der Aufklärung und war natürlich gegen die Nazis. Aber all diese Bildung hatte den Terror der Naziherrschaft nicht verhindern können. Was hat da gefehlt? hat sich Dorothee Sölle gefragt. Und warum wird in den Kirchen noch immer ein allmächtiger Gott verkündigt? Allmächtig? Nach Auschwitz? Das alles war für Dorothee Sölle nicht akzeptabel. Und so wurde die Theologie für sie erst einmal zum Ort der Revolte.
Annette Bassler
Und genau damit hat sie mir geholfen, Argumente zu finden in meiner Revolte. Argumente gegen diese "Frömmigkeit der Ergebung". Und sie hat mir Sprache gegeben. Berührende Sprache. So erzählt sie ihrem Buch "Hinreise" von der Zeit der Trennung von ihrem ersten Mann. Damals war sie Mutter von drei kleinen Kindern und quälte sich mit dem Gefühl, auf ganzer Linie gescheitert zu sein. Ich habe mit ihr die Tiefen ihrer Verzweiflung durchschritten und habe gelernt, meinen Widersprüchen und meinem Scheitern gnädiger zu begegnen. Ich habe gelernt, was Gnade wirklich ist und was sie bedeutet. Das hat mich in meinem Studium beflügelt.
Bei dir Ursel, war das anders. Du warst schon Lehrerin, als du das erste Buch von Dorothee Sölle gelesen hast.
Ursula Baltz-Otto
Ja, als ich ihr zum ersten Mal begegnet bin, habe ich Religion und Deutsch unterrichtet. Ich war gegen diese Art von Frömmigkeit, die abgehoben vom Alltag einen fernen Gott verehrt, den man nicht versteht. Und da hat Dorothee Sölle für mich Gott vom Himmel auf die Erde geholt. Durch sie habe ich verstanden: Wenn ich meinen Schülern Hoffnungsgeschichten von Gott erzählen will, dann muss ich das in Bildern und Symbolen tun. Und in einer Sprache, die alle verstehen. Das habe ich unmittelbar in meinem Unterricht umgesetzt.
Annette Bassler
In diesen Wochen wird Dorothee Sölle ja anlässlich ihres 20. Todestages in vielen Gemeinden und Akademien geehrt. Dabei hat sie zu Lebzeiten viele Anfeindungen ertragen müssen. Du hast das damals ja unmittelbar miterlebt.
Ursula Baltz-Otto
Ja, ich habe in Mainz ihre Vorlesungen gehört, Anfang der 70er Jahre. Viele waren wie ich begeistert. Gleichzeitig hat aber eine konservative Mehrheit im Fachbereichsrat mit fadenscheinigen Argumenten versucht, die Verlängerung ihres Lehrauftrags von Semester zu Semester immer wieder zu verhindern. Wegen ihrer "atheistischen Theologie." Mitten in diesen Querelen 1974/75 hat sie in Gegenwart von Bundeskanzler Willy Brandt und Außenminister Walter Scheel die Theodor-Heuss-Medaille bekommen. Und zwar für ihr beispielhaftes Wirken in Kirche und Gesellschaft. Trotzdem hat sie in Deutschland nie einen Lehrstuhl bekommen. Dann aber in New York. Dort war sie 12 Jahre Professorin für Systematische Theologie.
Annette Bassler
Im Grunde hat sie damals das Herzstück von Theologie und Kirche attackiert. Den Glauben an einen allmächtigen Gott. Der alles wunderbar regelt und unter den man sich als gläubiger Mensch nur unterzuordnen braucht. Diesen all- mächtigen, all- wissenden, all- gütigen Gott hat sie den "Fitzliputzligott" genannt. Den man hinter sich lassen muss. Weil es eine infantile, eine überholte Vorstellung von Gott ist.
An diesem Thema der Allmacht Gottes habe ich jahrelang kritisch herumgedacht. Omnipotenz ist nicht das Höchste, was man von Gott sagen kann. Und der Allmachtswahn hat in der Geschichte des Christentums… vor allem Unglück erzeugt. (Sölle)
Ursula Baltz-Otto
Für Dorothee Sölle war Auschwitz der Ort, an dem das absolut Böse real und sichtbar geworden ist. Und es war der Ort, der für alle Zeiten die Rede von einem allmächtigen Gott unmöglich gemacht hat. Wo ist Gott in Auschwitz gewesen? Fragt sie. Und ihre Antwort lautete: Gott selbst hat dort gelitten und ist mit den Menschen gestorben.
Das innerste Geheimnis der Wirklichkeit ist mit Macht, Herrschaft und von oben Eingreifen falsch benannt. Dieser Herrschergott ist in der Tat tot. An die Liebe glauben ist mehr als den himmlischen Knopfdrücker anzubeten. (Sölle)
Annette Bassler
Gott als himmlischer Knopfdrücker ist tot. Gott kann außerhalb und ohne uns nicht ins Weltgeschick eingreifen. Damit nimmt Dorothee Sölle die Religionskritik der Aufklärung ernst. Die behauptet hat: unsere menschliche Vernunft kann Gott weder beweisen noch widerlegen. Alles, was wir über Gott sagen, könnte auch Ausdruck unserer eigenen Wünsche, Ängste und Sehnsüchte sein. Die wir unter dem Namen "Gott" an den Himmel projizieren. In ihrem Buch "Stellvertretung" greift Dorothee Sölle diese Kritik auf und denkt sie weiter. Wir müssen den Kinderglauben hinter uns lassen. Den Glauben an den "Fizlipuzligott", wie sie ihn nennt. Und wir müssen nach vorne gehen. Gott anders denken, anders über ihn reden.
Ursula Baltz-Otto
Der neue Glaube beginnt mit einem Himmel, der leer ist. Und mit einem Herzen, das voll ist von Sehnsucht. "Dass du Gott brauchst, mehr als alles, weißt du allzeit in deinem Herzen", sagt der jüdische Philosoph Martin Buber. Er war für Dorothee Sölle eine glückliche Fügung. Gott brauchen, so Buber, ist keine Einbahnstraße. "Du brauchst Gott, um zu sein. Und Gott braucht dich zu eben dem, was der Sinn deines Lebens ist." Mit Gott wird das Leben nicht leichter, im Gegenteil. Es wird schwerer. Sinn- schwer.
Annette Bassler
Und diese Sinn- schwere hat ihren Ort in der Beziehung. Die Beziehung zu Gott und die zu anderen Menschen. In dieser Beziehung sind drei Aspekte wesentlich.
Der erste Aspekt ist die Gegenseitigkeit. Es gibt ein Geben und Nehmen. Auch in der Beziehung zu Gott. Wir brauchen Gott. Und Gott braucht uns.
Zweitens: nur in der Beziehung begreifen wir den besonderen Sinn, den unser Leben hat. Begreifen, wofür wir da sind, was unsere Lebensaufgabe ist.
Und drittens: Der Sinn, den wir durch die Beziehung begreifen, den müssen wir auch leben. Und zwar im Handeln. Tag für Tag. Steigen wir aus der Beziehung aus, dann verflüchtigt sich auch der Sinn. Hören wir auf, unseren Sinn handelnd umzusetzen, verflüchtigt sich auch die Beziehung zu Gott. Denn Gott ist nicht ein jenseitiges Wesen. Gott ereignet sich. Gott geschieht. Aber wie kann man nun atheistisch an diesen Gott glauben?
Ursula Baltz-Otto
Atheistisch glaubst du dann, wenn du auf die Vorstellung eines jenseitigen himmlischen Wesens verzichtest. Atheistisch glaubst du, wenn du auf den Gott vertraust, der in dir lebt und mit dir lebt. Und der in und mit deinen Geschwistern im Glauben lebt.
Diese Gegenseitigkeit ist es, die mir eine besondere Kraft schenkt. Sie hält mich und trägt mich weiter. Wie ein Fluss, in den ich eingestiegen bin und von dem ich getragen und weitergetragen werde. In dem ich aber auch schwimmen muss, um auf Kurs zu bleiben.
Annette Bassler
Mich ruft das in die Verantwortung. Und es ist wie mit der Liebe. Verschließe ich mich vor der Liebe und vor dem Schmerz, den sie bringen kann, dann falle ich aus der Liebe. Aber bleibe ich in der Liebe und schenke sie anderen, dann trägt sie auch mich. Wir brauchen Gott, um den Sinn unseres Lebens zu finden und in seinem Namen weiterzuarbeiten. Und Gott braucht uns, damit seine Schöpfung ein guter Ort wird. Gott braucht viele Freunde, hat Dorothee Sölle gesagt. Und sie hat es in einem Gebet so formuliert:
Nicht du sollst meine probleme lösen
sondern ich deine gott der asylanten
nicht du sollst die hungrigen satt machen
sondern ich soll deine kinder behüten
vor dem terror der banken und militärs
nicht du sollst den flüchtlingen raum geben
sondern ich soll dich aufnehmen
schlecht versteckter gott der elenden
Ursula Baltz-Otto
Gott ist tot, sagte schon der Philosoph Friedrich Nietzsche. Dorothee Sölle hat das aufgenommen und abgewandelt: es ist unsere Vorstellung von einem allmächtigen Gott, die tot ist. Der Gott, der alles so herrlich regieret, wird abgelöst von seinem irdischen Stellvertreter auf Erden: es ist der Mensch Jesus von Nazareth. Er ist die "deutlichste Stimme Gottes" so Dorothee Sölle. In ihm wird sichtbar, wo wir Gott finden können und wie wir seine Macht denken sollen.
Es ist die Macht eines Menschen, der auf jede Art von Gewalt verzichtet. Gott finden wir im Menschen. Das erzählen uns die Begegnungen und Gleichnisse Jesu. Er ist an der Seite derer, die sich selbst nicht helfen können. Und genau da ereignet sich Gott.
Annette Bassler
Als Theologin hat Dorothee Sölle nie versucht, eine Systematik zu schreiben, also ein komplettes theologisches Konzept. Für sie ist Jesu Sprache und Stil Programm. Sie schreibt aus der Situation heraus. Versucht, Antworten zu formulieren auf aktuelle gesellschaftspolitische Herausforderungen. Sie schreibt, damit das Gewissen vor Gott sich auch in politischen Fragen verantwortlich fühlt. Glaube ist für sie immer spirituell und politisch zugleich.
Ursula Baltz-Otto
Und genau das habe ich hautnah miterlebt. Im Politischen Nachtgebet in Köln, Ende der 60er Jahre. In diesen Gottesdiensten haben wir über den Krieg in Vietnam, die Auslöser der Studentenunruhen und das nazigeprägte Denken der Nachkriegszeit diskutiert. Es war Information, Meditation, Diskussion, Aussprache und gemeinsames Handeln. Für mich war das wie ein Nachhause-Kommen im Glauben. Es war der Anfang einer neuen spirituellen Praxis des Gottesdienstes. Das hat auch mein Predigen verändert. Diese Politisierung des Gewissens hat Dorothee Sölle so beschrieben:
Du musst muss die Sünde politisieren und die Zuschauer als mehr oder weniger willige Vollstrecker definieren. Nicht nur was hast du getan, ist die Frage, sondern was hast du nicht getan? Warum hast du das mitgemacht? Was hast du dagegengesetzt? (Sölle)
Annette Bassler
Sie klingt unerbittlich, die Frage nach der Verantwortung, die ein Christenmensch hat. Auf dem Hintergrund ihrer Theologie aber wird sie verständlich. Wenn die Beziehung zu Gott eine wechselseitige ist, dann braucht Gott mich offenbar genauso dringend wie ich Gott brauche. Die Beziehung, die mir Halt gibt, hält mich in gleicher Weise an, Verantwortung zu übernehmen und mich für Gottes Sache zu engagieren. Ich tue das jedoch nicht als eine Art "Schöpfer der Welt". Ich tue es immer schon als Teil der Schöpfung. Als Gottes Geschöpf. Dorothee Sölle beschreibt es so:
Ich glaube an den guten Anfang unseres Lebens in der Schöpfung, wir sind als Ebenbilder Gottes geschaffen, als Wesen, die fähig sein sollten zu lieben und in die Liebe hereinzuwachsen. Das ist der Sinn des Lebens. Und das zu erbitten, zu wünschen, Gott zu beschwören, dabei zu helfen, das richtet sich nicht an diesen Macher im Himmel, sondern das richtet sich an uns alle zusammen. (Sölle)
Ursula Baltz-Otto
Was würde Dorothee Sölle predigen, würde sie heute leben? Was würde sie sagen zu den täglichen Kriegsnachrichten aus der Ukraine? Wie würde sie sich verhalten zu dem fortschreitenden Klimawandel, der zunehmenden Kluft zwischen Arm und Reich in unserem Land? Hat der christliche Glaube eine Zukunft? Vor zwanzig Jahren hat Dorothee Sölle einen Blick in die Zukunft gewagt - und er klingt erstaunlich aktuell.
Drei Dinge sind… für die Zukunft des Glaubens zentral: Gerechtigkeit, also eine nicht ausschließlich vom Profit gelenkte Wirtschaft, Frieden, also eine andere Art der Konfliktlösung als die uns immer noch beherrschende des Bombardements, und die Bewahrung der Schöpfung. Innerhalb dieser drei Felder ereignet sich, was das Christentum in unserer Welt bedeutet. (Sölle)
Ursula Baltz-Otto
Der Glaube an Gott - er ereignet sich unter uns. Dieser Glaube gibt Halt und Hoffnung zugleich. Weil er sich auch im Engagement bewährt. Unser Handeln ist immer auch Ausdruck unserer Beziehung zu Gott. Dorothee Sölle hat gerne Fragen gestellt. Ihre drängendsten Fragen an uns sind diese:
Hat der Glaube von Christen noch eine Chance, die Welt zu gestalten? Wie wird dieser Glaube im nächsten Jahrhundert gelebt werden? Wo sind seine Stärken? Wo steht ihm die Kirche im Weg? Welche Lebensformen wird er entwickeln? (Sölle)
Annette Bassler
Antworten auf diese Fragen finden wir im Handeln und in vertrauensvoller Beziehung. Was immer wir finden - wir finden sie als die, die von Gott schon gefunden worden sind. Lange bevor wir uns selbst auf die Suche gemacht haben. Dorothee Sölle hat das in den Worten eines Gebetes wunderbar zusammengefasst.
Du hast mich geträumt gott
wie ich den aufrechten gang übe
und niederknien lerne
schöner als ich jetzt bin
glücklicher als ich mich traue
freier als bei uns erlaubt
Hör nicht auf mich zu träumen gott
ich will nicht aufhören mich zu erinnern
daß ich dein baum bin
gepflanzt an den wasserbächen
des lebens
Es gilt das gesprochene Wort.
Musik dieser Sendung:
- Franz Schubert, Streichquartett Nr. 14 d-Moll, D 810,2. Satz: Andante con moto
- Franz Schubert, Streichquartett Nr. 13 a-Moll, D 804, 2. Satz: Andante
- Bach, Goldberg Variationen, Nr. 21 (Lang Lang)
- Franz Schubert, Streichquartett Nr. 9 g-Moll, D 173, 2. Satz: Andantino
- Bach, Goldberg Variationen, Variation 19 (Lang Lang)
- Schubert, Streichquartett Nr. 10, Es-Dur, D 87 der 4.Satz: Allegro (Alban Berg Quartett)
Literatur dieser Sendung:
- Dorothee Sölle, Wer ist unser Gott, in: dies., Gott denken, Einführung in die Theologie, Stuttgart 1990, 239 -254
- Dorothee Sölle, Ncht du sollst meine Probleme lösen, in: dies. Ich dein baum in:loben ohne lügen. Gedichte, Berlin 2000, 12
- Dorothee Sölle, Stellvertretung. Ein Kapitel nach dem "Tode Gottes", Stuttgart 1965
- Dorothee Sölle, Atheistisch an Gott glauben. Beiträge zur Theologie, Olten 1968