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Wale. Sie faszinieren. Schon immer. Großstädter legen sich in die von Kerzen beleuchtete Badewanne, lauschen ihren Gesängen. Es gibt Felsbilder in Fjorden, gemalt von Steinzeitjägern vor langer Zeit. In Kirchen und Kathedralen finden sich Walknochen. Sie erinnern an das riesige Lebewesen, in dessen Bauch der Prophet Jona drei Tage verbracht haben soll. Und natürlich Moby Dick, der Roman und seine Verfilmung. Rauschende See, die mächtige weiße Flosse. Diese Tiere – vor allem die großen Exemplare wie Buckel- und Pottwal – sie umweht etwas Ehrfurchtgebietendes. Als kämen sie vom Anbeginn der Schöpfung. Und zugleich ist da eine besondere Nähe, die Menschen empfinden. Damals wie heute, beim Wal verschwimmen Mythos und Wirklichkeit …
Thomas Johannsen: „Wenn wir Wale sichteten, dann merkte ich an der Besatzung, die guckten. Die hörten auf zu schweißen, Farbe zu waschen, die guckten. [...] Das ist jedes Mal, wie ein großer Bruder, den man sieht. Und besonders eindrucksvoll ist der Gesang der Wale. […] Das werden sie nicht vergessen. Das sind Töne eines Urgesangs. Das ist Schöpfung.“
Thomas Johannsen. Kapitän. Mehr als 40 Jahre ist Thomas Johannsen zur See gefahren. 2021 schreibe ich meine Morgenandachten für den Deutschlandfunk über Moby Dick, daraufhin schreibt er mir. In Umschlägen aus alten Seekarten, mit geschwungener Handschrift. Wir teilen die Faszination an Walen, für Moby Dick, dieses literarische Meisterwerk von Herman Melville. 1851 erschienen unter dem Titel „The Whale“. 600 Seiten stark. Im Buch dramatische Helden und naturwissenschaftliche Exkurse, detaillierte Abhandlungen über die Arten der Wale. Und immer wieder sind da biblische Bezüge. Von der ersten bis zur letzten Seite: Jona, Hiob, die Psalmen. Im Buch geht es um die Fahrt der Pequod unter Kapitän Ahab, seine Jagd auf den weißen Wal. Der hat ihm bei einer früheren Reise einen Unterschenkel abgerissen, ihn gezeichnet an Leib und Seele. Erzählt aber wird die Geschichte von einem anderen:
„Nennt mich meinethalben Ismael. [...] Immer, wenn mir der Missmut am Mundwinkel zerrt und nieselnder November in die Seele einzieht, [...] dann ist‘s für mich die allerhöchste Zeit, zur See zu gehen.“ 1
Ismael. Der Name des erzählenden Ichs in Moby Dick geht auf den erstgeborenen Sohn Abrahams zurück, eine Randfigur im großen Geschehen der Vätergeschichten des ersten Mosebuchs. Ganz ähnlich der Ismael in Moby Dick. Kein Akteur, sondern Beobachter und Chronist. Der junge Mann beschreibt das Schiff mit Aufbauten, Takelage, Segeltypen – mit einer Genauigkeit, wie sie die biblischen Autoren dem Bauplan der Arche gewidmet haben. Gleiches gilt für die Waljagd in den schlanken mit Tuch bespannten Booten. Und immer wieder die Faszination für das Meer, diese unendliche Weite. Eine Sehnsucht, die mein Brieffreund Kapitän Thomas Johannsen kennt:
Thomas Johannsen: „Ich muss es so sagen, wie es ist. Ich war fünf Jahre alt und beschloss, zur See zu gehen, auf dem ersten Urlaub, den meine Eltern mit mir durchführten auf der Insel Amrum. Das hat mich so begeistert. Das Meer. Diese große, glitzernde Fläche, die ich noch nie gesehen habe.“
Auch der Autor von Moby Dick, Herman Melville, fährt als junger Mann zur See. 1841, mit 22 Jahren, geht er an Bord eines Walfängers. Auf dieser Reise fällt ihm das Buch über den „Untergang der Essex (1821)“ in die Hände. Ein Tatsachenbericht, verfasst vom 1. Offizier und Steuermann Owen Chase. Der schildert, wie die Dreimastbark Essex irgendwo im Nirgendwo des Pazifiks von einem gewaltigen Pottwal attackiert wird. Ein Bulle, beinah so groß wie das Schiff, rammt wieder und wieder die Essex. Die Männer retten sich in die Fangboote, schauen ohnmächtig zu, wie ihr Schiff sich auf die Seite legt und sinkt.
„Seine äußere Erscheinung war höchst Furcht erregend und verriet, dass er voller Zorn und in Wut war. Er kam geradewegs aus der Gruppe herausgeschwommen, in […] der wir drei seiner Artgenossen harpuniert hatten, als wolle er deren Leiden rächen.“ 2
Die Jagd auf den Wal ist alt. Im Trondheimsfjord in Norwegen gibt es Felsbilder, lange vor Christi Geburt gemalt. Wenige Striche deuten Boote an, darin Menschen. Unter ihnen taucht ein gewaltiger Fisch hindurch. Bedrohlich. In früheren Zeiten hat der Wal ein völlig anderes Image. Heute unverständlich: Alte Seekarten zeigen ihn als Monster, ein Ungeheuer, das Schiffe verschlingt. Die Seeleute erleben, was die Psalmen und Hiob klagend formulieren . Sie sehen im Wal die Verkörperung des Leviathans, den biblischen Meerdrachen …
Walfängergebet: „Du hast, oh Herr, den mächtigen Wal geschaffen. […] Doch, ewiger Gott, du hast auch bestimmt, dass wir arme schwache Erdensöhne unser […] täglich Brot verdienen, mit der mutigen Jagd auf das schreckliche Ungeheuer. 3
Das Gebet eines Walfängers aus dem 18. Jahrhundert. Für die Menschen damals hat diese Jagd religiöse Dimension, sie bringt Licht ins Dunkel der Welt. Aus dem Walrat – eine kristalline Flüssigkeit im Kopf des Pottwals – lässt sich feinstes Lampenöl gewinnen. Die Walfänger illuminieren das Weiße Haus, die Champs Élysées, St. Peter in Rom, Straßenlampen rund um den Globus. Aber Herman Melville durchbricht die Rede vom Leviathan. Vom Mastkorb zeigt Ismael seinen Leserinnen und Lesern die Herden der Wale, wie sie unter der Wasseroberfläche weiden:
„Einmal geschah mir´s, dass ich im Topp stand, als die Sonne aufging und Himmel und Meer in Feuersgluten tauchte. Da zog im Osten eine große Herde Wale dem flammenden Gestirn entgegen, und emporgeschleudert erbebten einen Atemzug lang alle Schwanzflossen. Eine so hehre Anbetung [, meinte ich,] könnte die Gottheit sonst nirgends gesehen haben […] So habe ich damals vom Wal behauptet, daß er das frömmste Tier unter der Sonne sei“ 4
Das frömmste Tier unter der Sonne. Der Komponist John Cage hat dem Wal ein musikalisches Denkmal gesetzt. „Litany For the Whale | Gebet für den Wal“ nennt er sein Stück von 1980. Die Melodiebögen steigen auf und ab wie ein schwimmender Wal, sein Rollen und Wälzen durch die Meeresoberfläche.
In meiner Brieffreundschaft mit Kapitän Johannsen lerne ich den Wal als „Geschöpf des fünften Tages“ kennen. Seinen Ursprung hat diese Wortschöpfung aber in der frühen Luther-Übersetzung (1545).5 Bevor aus Abend und Morgen der fünfte Tag wird, steht dort: „Und Gott schuf große Walfische und alles Getier, dass da lebt und webt, davon das Wasser wimmelt.“ Die Geschöpfe des fünften Tages sind die ersten, die gesegnet werden. „Seid fruchtbar, mehret euch.“ Noch vor der Menschheit; den Kindern des sechsten Tages.
Martin Luther übersetzt drei hebräische Worte mit „Wal“. Da wäre „tannin“. Im Schöpfungsbericht ein Sammelbegriff für alle großen Wesen und Ungeheuer der Tiefsee. Dann die Verse über den Leviathan. Dieses mythische Wesen hat verschiedene Gestalten, der Wal gilt als eine seiner Verkörperungen. Und schließlich „dag gadol“, der große Fisch aus der Jona-Geschichte. In seinem Bauch ist der Prophet für drei Tage eingeschlossen. Dann setzt das mächtige Tier den Propheten an der Küste von Ninive wieder aus. Die frühen Christinnen und Christen haben darin einen Vorläufer zur Ostergeschichte gesehen. Ein Auferstehungswunder. Tatsächlich hat sich etwas Ähnliches im Juni 2021 vor der Ostküste der USA zugetragen. Da wird ein Fischer von einem Buckelwal verschluckt und wieder ausgespuckt. Und in der Stiftskirche Bad Gandersheim am Fuße des Harz liegt der Unterkiefer eines solchen Buckelwals. Votivgabe eines Walfängers aus dem 18. Jahrhundert. Sie liegt in einer Seitenkapelle; ich fahre extra hin, schreite die Maße ab: Fast fünf Meter misst der Knochen. Alles wahr, Mythos und Wirklichkeit: ein doppelseitiger Zeitungsartikel berichtet vor wenigen Wochen von Walattacken auf Sportsegler im Mittelmeer, wieder und wieder rammt die Gruppe Orcas die Ruderanlage, bis sie bricht. Oder die Sichtung eines weißen Pottwals im Juli 2015 vor Toulon und Sardinien.6 Die Geschichte von Moby Dick ist nie so ganz ausgelesen, so erlebt es auch Kapitän Thomas Johannsen:
Thomas Johannsen: „Abgesehen von der packenden Handlung, abgesehen von dem an der Seele und auch körperlich so verwundeten Kapitän Ahab. Das hab‘ ich aber dann erst gemerkt. Es ist ja viel mehr. Ich sage immer: niemals gegen die Natur, immer mit ihr und das ist dieses Buch."
Neben Moby Dick, dem weißen Wal, ist Kapitän Ahab Dreh- und Angelpunkt des Romans. Ahab ist Hiob und Prometheus zugleich. Ich mag Ahab seit ich die Verfilmung mit Gregory Peck gesehen habe. Die eisgraue Strähne im Haar, die Narbe auf der linken Gesichtshälfte. Purer, unbändiger Wille und dann diese sanften, verletzlichen Augen: Ahab will den Himmel stürmen und spürt doch die Abhängigkeit, die uns Menschen ausmacht. Von der Natur, dem Nächsten, von Gott:
„Bin ich denn Ahab? Bin ich’s, o Gott, der diesen Arm hebt, oder wer ist‘s? Selbst du, große Sonne, läufst nur als Magd der Himmlischen deine Bahn und nicht aus freiem Willen. […] Nein, Gott führt den Schlag, Gott, denkt den Gedanken, Gott lebt mein Leben, nicht ich“. 7
Der Name Ahab lastet natürlich wie ein Fluch auf der Romanfigur. Kein anderer Herrscher des alten Israel wird in der Bibel so schlecht beurteilt wie er. Seine Sünde: Er heiratet eine syrische Prinzessin, erlaubt religiöse Vielfalt. Deshalb verflucht die Bibel Ahab, lässt ihn einen brutalen Tod sterben.
Das Finale von Moby Dick ist gewaltig. Drei Tage dauert der Kampf. Zuletzt hängt Ahab am weißen Wal, rammt die Lanze wieder und wieder in dessen Haut. Dann taucht Moby Dick ab, rammt das Schiff, reißt alles in die Tiefe. Nur Ismael entkommt der Katastrophe. Randfigur, Chronist und genauer Beobachter. Er klammert sich an ein Stück Treibgut, das nach dem Untergang an die Oberfläche steigt. Mit Ismael schlägt Herman Melville einen weiteren Bogen zur Bibel8, hier allerdings tröstend, seelsorglich. Ismael und seine Mutter Hagar werden in das Sandmeer der Wüste verstoßen. Doch Gott sendet seinen Engel. Er macht Ismael, den Sohn von Abrahams Magd, zum Vater eines großen Volks. Gott hat ein Herz für die Nebendarsteller, für die Verstoßenen, die Randfiguren im großen Geschehen. Und Kapitän Thomas Johannsen liest dies aus Moby Dick heraus. Seit fast vier Jahren ist er nun an Land. Um sein Haus ein Mastenwald aus Eichen. Wie die See rollt die Landschaft bis an den Horizont:
Thomas Johannsen: „Das Wichtige vom Unwichtigen zu unterscheiden, fällt uns auf See sehr leicht. Und wenn Ahab einen alttestamentarischen Namen trägt und jemanden verkörpert, der sogar so tolerant war, dass er Religionsfreiheit akzeptierte, das ist doch schon was. Der Sinn des Lebens ist Liebe.“
Andere sehen in Moby Dick ein Sittengemälde der amerikanischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Ihr Streben nach Größe, Macht und Herrschaft. Wie sie in ihrer Gier nach Öl, Tran und Fett das Meer industriell ausbeutet. Dabei geht es – glaube ich – um die Menschheit an sich. Wie sie ein ums andere Mal die Sünde Babels wiederholt. Wie Gott sein wollen und über alles herrschen: Die Vögel am Himmel, die Fische im Meer (1. Mo 1,28). Herman Melville beschreibt in Moby Dick eine Generation, die den Respekt vor der Natur verloren hat – ihrer Kraft, ihrer Schönheit, ihrer verwundbaren Seele. Diesem Geheimnis der Welt komme ich im Staunen am nächsten. So wie Ismael oben im Mastkorb. Wo Mythos und Wirklichkeit am Horizont miteinander verschwimmen. Wenn wir Menschen als Kinder des sechsten Tages mit den Geschöpfen des fünften Tages in den Gesang der Schöpfung einstimmen.
Es gilt das gesprochene Wort.
Musik dieser Sendung:
Alan Bennett, Paul Elliot: Litany For the Whale (John Cage), Track Nr. 1.
Literaturangaben:
- Herman Melville: Moby-Dick (1851), Diogenes-Ausgabe 1977, S. 25.
- Owen Chase: Der Untergang der Essex (1821), Verlag Die Hanse, Hamburg 2000, S. 40-41.
- Peleg Folger: Walfängergebet, 1754. (Vgl. Hi 40,25-32; Hi 41,23-26; Ps 104,26).
- H. Melville: Moby-Dick (1851), Diogenes-Ausgabe 1977, S. 385.
- 1. Mose 20-23.
- https://www.pottwale.de/magazin/moby-dick-weisser-pottwal-im-mittelmeer-gesichtet/
- H. Melville: Moby-Dick (1851), Diogenes-Ausgabe 1977, S. 539-540.
- 1. Mose 16,1-15 und 1 Mose 21,8-21.