Gemeinfrei via unsplash/ Nathan Dumlao
Wohngemeinschaften
von Pastorin Claudia Aue
17.07.2024 06:35
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"Meine Mutter lebt in einer Wohngemeinschaft." Als ich das einem Freund erzähle, sehe ich förmlich die Bilder in seinem Kopf: ein langer Flur voller Kartons mit Altpapier und Altglas. In der Küche stapeln sich dreckige Teller. Bässe wummern aus einem Zimmer. "Klingt ein bisschen hippiemäßig", sagt er zögerlich.

Ich überlege. Auf eine Weise schon. Meine Mutter lebt in einer Wohngemeinschaft für dementiell Erkrankte. Es gibt dort zwei Grundideen: Die Bewohnerinnen und Bewohner dürfen so viel wie möglich das tun, worauf sie gerade Lust haben. Und: Niemand soll sich einsam fühlen.

Eine Bewohnerin zum Beispiel ist nachts immer lange wach, frühstückt spät und fährt dann einen Kinderwagen auf und ab. Wenn sie gerade nicht den Kinderwagen durch den Flur schiebt, ist sie am Räumen. Sie räumt Teller ab und Bettzeug hin und her. Sie hat sich ihr Leben lang gekümmert. Wenn ich zu Besuch bin, strahlt sie mich an und umarmt mich.

Ein anderer Herr sortiert Zeitungsartikel, schneidet aus und klebt ein. Er verfolgt ein wichtiges Projekt. Ich weiß nicht, welches, aber er kommt immer mit seinen Artikeln an den großen Esstisch und erzählt davon.

Nichts davon ist zu romantisieren. Eine dementielle Erkrankung ist hart, knallhart für die Betroffenen und die Angehörigen. Aber das Konzept in der WG gegen die Einsamkeit beeindruckt mich immer wieder. Schon der Architekt hat so gedacht und die Wohngemeinschaft danach gebaut: In der Mitte liegt ein weitläufiger Raum mit einer offenen Küche, einem großen Tisch und Sitzecken. Von dem aus gehen sternförmig die zehn Zimmer ab. Wenn jemand aus dem Zimmer kommt, ist er oder sie also automatisch mittendrin in der Gemeinschaft.

Die Pflegenden der Diakonie sorgen für die Bewohnerinnen und Bewohner und kümmern sich. Durch die großen Fenster kann man vom Esstisch in den Himmel und auf den kleinen blühenden Garten gucken – und auf den Turm der Kirche nebenan.  Die WG wurde vor sieben Jahren an der Stelle des alten Pfarrhauses gebaut.

Manchmal denke ich: Eigentlich würde das Konzept auch gut für die Kirche nebenan passen – und für den Gottesdienst. Ein Ort zu sein, an dem Menschen nicht einsam sind. Eine Wohngemeinschaft, in der Menschen miteinander leben, in die Mitte kommen dürfen, wie sie gerade sind: müde oder ausgeruht, mit einem neuen Projekt oder gelangweilt.

In einer Kirchengemeinde meiner Stadt ist das so, zumindest am Sonntagmorgen. Da ist die ganze Kirche wie ein Bienenstock. Einige Leute begrüßen an der Tür, andere kochen schon mal einen Kaffee. Eine Glaswand trennt Kirche und Vorraum. Dort gibt es Stehtische und Kinder spielen während des Gottesdienstes auf dem Boden. Schon vor dem Gottesdienst wird geschnackt und hinterher bei Kaffee und Kuchen sowieso. Der Gottesdienst selbst hat einen schlanken Ablauf – ohne Fremdworte. Die Lied-Texte sind per Beamer für alle gut zu sehen und zu singen. Ich bin gern dort. Ich fühle mich willkommen und gehe fröhlich nach Hause.

Seit Kurzem haben sie eine neue Idee eingeführt: Beim Kirchenkaffee gibt es nicht nur weiße Becher, sondern auch blaue. Wer einen blauen Becher nimmt, zeigt damit, dass er oder sie gern ins Gespräch kommen möchte. Erst zuckte mein etwas distanziertes Herz zusammen. Aber dann fand ich’s gut. Eine Gemeinschaft eben, in der ich willkommen bin, wie ich bin – ob zum Schnacken aufgelegt oder gerade nicht. (1)

In der WG für dementiell Erkrankte, in der meine Mutter lebt, ist das auch so. Nur traut sich kaum jemand dorthin. Aber wer kommt, braucht keinen blauen Becher. Angesprochen wird jeder und jede. Dafür sorgt schon die Frau mit dem Kinderwagen und der Herr mit dem Zeitungsprojekt. Und sofort sitzt man mit an dem großen Tisch. Mittendrin.

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Literatur zur Sendung:

(1) Leipziger Studie "Gottesdienst & Familien. Logiken der Partizipation im liturgischen Leben der Kirche", https://leuris.uni-leipzig.de/portal/details/forschungsprojekt/9288