"Viele Wege führen zu Gott, einer geht über die Berge." Ein Satz des Alpinisten und früheren Bischofs von Innsbruck, Reinhard Stecher. Unser Autor kann diese Worte nachempfinden. Im Sommer zieht es ihn in die Berge. Sportlich und spirituell.
Sendetext nachlesen:
Mein Vater hat mich in unseren Familienurlauben gefühlt durch jedes Kloster, jede Kapelle in Oberbayern geschleift. Noch langweiliger und nerviger fand ich das Bergsteigen. Früh aufstehen, kratzige Kniestrümpfe, endlose Serpentinenwege, Posieren fürs Foto am Gipfelkreuz.
Heute liebe ich Berge und Kirchen. An beiden Orten fühle ich mich Gott näher. Auf dem Gipfel sogar noch mehr. Diese Leidenschaft beginnt viele Jahre nach den Sommern der Kindheit, da bin ich schon 44 Jahre. Aber entscheidender als mein Alter ist der Moment, in dem es passiert ist. Es hat mich gepackt, als ich aufgeben will, als mir alles zu viel wird, so wie damals bei den Touren mit meinem Vater.
Oktober 2013. Fünf Freunde. Es soll auf den Brisen gehen, einen Zweitausender im Schweizer Kanton Uri. Wir starten um 7 Uhr am Vierwaldstättersee, schultern die Rucksäcke, steigen auf, klettern über Leitern, voller Elan, machen Tempo und nur kurze Pausen. Mittags erreichen wir Maria Rickenbach, ein Klosterdorf.
Ich spüre deutlich, was mich diese Stunden an Kraft gekostet haben.
Puddingbeine. Wir bestellen Fleischbrühe im Brotlaib, dösen auf der Terrasse. Die Sonne scheint wie an einem Spätsommertag. Hilft aber alles nichts, die Muskeln bleiben schwammig. Also nehmen wir den Sessellift zur Bergstation Haldigrat. Kälte schlägt uns hier entgegen. Noch 500 Höhenmeter. Eine Ewigkeit. Der langestreckte Kamm steigt wie der Rücken eines Drachen zum Gipfel an. Jeder Schritt schmerzt, Reißen in den Waden. Mich verlassen die Kräfte, ich gehe in die Knie.
Nichts geht mehr, sage ich. Ein Freund kommt, richtet mich auf, gibt den Takt vor. Ein Fuß vor den andern. So geht es weiter, Meter um Meter. Kurz vor dem Gipfel macht irgendetwas Klick. Ich bin dann sogar der Erste. 2.403 Meter. Die Ausflugsdampfer auf dem Vierwaldstätter See schrumpfen auf Spielzeuggröße. Ich riesengroß und ganz klein. Irgendwas schreit aus mir heraus. Meine Freunde johlen ebenfalls in den eisblauen Himmel. Wir sind im wahrsten Sinne: high, Gipfelglück.
"Kleinheit ist und bleibt der Anfang aller Weisheit", lese ich bei Reinhold Stecher in "Botschaft der Berge" (53). Durch Zufall entdecke ich das Buch. Stecher war begeisterter Alpinist und katholischer Bischof von Innsbruck (*1921- †2013). Er beschreibt das Bergsteigen als heilsame Aktivität gegen die innere Unruhe, eine sportliche und vor allem spirituelle Angelegenheit.
In seinen Worten finde ich mich wieder. Denn dieses Hochgefühl vom Brisen in den Schweizer Alpen pocht in meiner Erinnerung. Es folgen der Wilde Kaiser, das Karwendel, die Zillertaler Alpen und immer wieder Südtirol. Bis zu 2.700 Meter schaffe ich. Aber ich will mehr, trete dem Alpenverein bei, trainiere den Vorstieg im Klettergeschirr – gesichert wie an einer Nabelschnur.
Schließlich der Staubaier Höhenweg. Wir sind zu dritt, haben ein gemeinsames Ziel: endlich auf einen Dreitausender. Von Neustift am Brenner geht es los. Erst über die Zubringerstraßen hinauf zur Oberissalm. Dann klettert der Weg in sachten Schleifen nach oben
Hin und wieder Wegkreuze, windschief. Der Körper des Gekreuzigten hat seine Form verloren, ist vom Wetter geschliffen. Zu seinen Füßen Wiesenblumen in den Farben des Bergsommers. Auf die Almwiesen folgen Geröllsohlen, kantige Grate, Schneefelder. Es geht hinauf und immer wieder hinab, dann erneut nach oben.
Du fällst zurück, läufst hinterher. Bist abhängig von den anderen, von Wind, Wetter und Zuversicht. Oft haben wir lange Wege. Deshalb immer früh raus. Dann von Hütte zu Hütte bis zum ersehnten Gipfel, der Wilde Freiger, 3.418 Meter. An seinem Fuß liegt die Nürnberger Hütte.
Als wir das Alpenvereinshaus erreichen, steht der Gipfel im Nebel. Mehrere Bergsteiger treten heraus, enttäuscht, wortkarg. Ihr Bergführer hat den Aufstieg wegen des Wetters abgebrochen. "Der Berg ist unbequem. Auch mit dieser Eigenschaft rückt er in die Nähe Gottes", schreibt Reinhold Stecher, der Alpinist und einstige Innsbrucker Bischof. Er nennt die Berge "schweigende Lehrer". Sein Buch "Botschaft der Berge" stammt von 1986. Meine Ausgabe ist mit Aquarellen des sogenannten Bergbischofs illustriert. Die Kapitel des Bandes erzählen kurze Geschichten, meditativ gehalten, angereichert mit biblischen Bezügen, oft aus den Psalmen. Mancher Vers dieser jahrtausendealten Gebete atmet tatsächlich Gipfel-Luft:
Zitat: "Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen. Woher kommt mir Hilfe? Meine Hilfe kommt vom HERRN, der Himmel und Erde gemacht hat." (Psalm 121,1-2)
Berge gelten in den Religionen des Alten Orients und der griechischen Antike als Wohnstätte der Götter. Die Baals-Kulte in Kanaan beispielsweise sind jeweils mit einem bestimmten Berg verbunden. Und die Völker des Zweistromlandes im heutigen Irak haben für die Verehrung ihrer Götter künstliche Berge errichtet, die Zikkurat.
Auch die biblischen Geschichten sind von diesem Glauben durchdrungen. Auf dem Gipfel betritt der Mensch den Saum der göttlichen Sphäre. Mose erlebt das auf dem Horeb beziehungsweise dem Berg Sinai. 1991 bin ich dort gewesen. An seinem Fuß das Katharinenkloster. Aufstieg um 3 Uhr morgens mit vielen, vielen anderen. Eine lärmende Karawane. Beduinen kochen in Felsnischen Tee, Geschirr klappert.
Da sind die kehligen Laute der Kamele, die ältere Reisende bis an ein Plateau unterhalb des Gipfels tragen. Der liegt auf fast 2.300 Metern (2.285 m). Am Horizont flirrt erst ein Streifen Altrosa, dann glüht die Welt, als würde sie aus Licht neu geboren. Ist hier Mose das erste Mal seinem Gott begegnet? Es ist nicht ganz klar, ob der biblische Horeb mit dem Berg Sinai identisch ist. Jedenfalls heißt es von dem Berg Gottes: Dort hütet Mose die Schafe seines Schwiegervaters. Er kommt zu einem Dornbusch. Der steht in Flammen, aber verbrennt nicht. Mose tritt näher. "Ich bin, der ich sein werde", spricht die Stimme Gottes aus dem Feuer. Mit diesen Worten offenbart sich der unsichtbare Schöpfer und wird für Mose zum persönlichen Gott.
Auch Jesus offenbart seine Göttlichkeit auf einem Gipfel (Matthäus 17,1-13, Markus 9,2-13, Lukas 9,28-36). Manche glauben, dass es der Berg Tabor gewesen sei, eine kegelförmige Erhebung von 600 Metern im Norden Israels. Jesus schwebt, sein Äußeres wird durchscheinend. Sein Gesicht leuchtet wie die Sonne. Neben ihm erscheinen die Bergsteiger des Alten Bundes: Mose und Elia.
Elia ist viele Jahrhunderte nach Mose auf den Gottesberg geklettert, den Horeb (1. Könige 19). Auch ihm offenbart sich dort Gott. Aber anders, als er das gegenüber Mose getan hat. Elia zeigt er sich en passant, im Vorübergehen. Erst kommt ein Wind, der die Berge zerreißt, dann ein Erdbeben, dann ein Feuer. Aber Gott ist in all dem nicht. Erst "in einem verschwebenden Schweigen" spürt Elia: Gott ist da. Und Elia verhüllt sein Gesicht.
"Die Berge [führen] ... an jene Grenze, die man die Schwelle des Glaubens nennt. Still und unaufdringlich!" (80) Noch einmal Reinhold Stecher. Von dieser spirituellen Dimension zeugen die Gipfelkreuze. Manche tragen religiöse Inschriften, Segenssprüche. "Am Gipfel, wo die Welt zu Ende geht und über uns nur der weite Himmel steht [...], wächst aus dem Blick in die Tiefe die Frage nach dem Sinn des Ganzen", so erklärt das der Bergbischof Reinhold Stecher.
Kein Wunder also, dass der nepalesische Koch auf der Nürnberger Hütte Berg-Devotionalien verkauft. Er sitzt nach dem Abendessen auf der Terrasse, öffnet einen dunkel gebeizten Kasten, darin Kreuze aus Yak-Horn, Plaketten mit der Ursilbe Om, Wimpelketten, wie sie auf den heiligen Bergen im Himalaya flattern.
Ich kaufe ein Kreuz. Segen kann hier oben jede, jeder brauchen. Und wir grüßen einander auf unseren Wegen mit Segensworten. "Pfiat di Gott", also "Behüte dich Gott" oder schlicht "Grüß Gott". Vielleicht erklärt dies auch die Tradition des Alpsegens, die es in den Ostalpen gibt. Vor allem in der Schweiz ist sie heute noch lebendig. Die Sennen und Sennerinnen singen einen Bet-Ruf abends hinab ins Tal. Der Filmemacher Peter Roth hat in der Dokumentarreihe "Vom Zauberklang der Dinge" diesen Moment eingefangen. Die Älplerin Sonja Lieberherr nutzt einen hölzernen Trichter, der wie ein Megafon wirkt.
Der Gesang wogt auf und ab, wie unsere Wege. Alle möglichen Gefahren werden aufgezählt: Blitzschlag, Lawinen, Wettersturz. Seinen Ursprung hat der Alpsegen wohl im Mittelalter. Der Text variiert in den Regionen, beginnt, endet aber meist mit dem Ruf "Ave Maria".
Am nächsten Morgen lege ich das Kreuz aus Yak-Horn um. Wir stehen früh auf. Dehnübungen, Bergsteigermüsli, daumendicke Brote für den Tag. Ein Blick durch die karierten Vorhänge zeigt: Das Wetter meint es wohl gut mit uns. Der Nebel hat sich verzogen, nichts als Himmel. Gegen 7 Uhr verlassen wir die Nürnberger Hütte. Über den Wildbach, vorbei am Bergsee, der uns wie ein Auge hinterherblickt, dann steil hinauf. Hier verlieren sich die Gespräche. Gedanken lösen sich auf, über uns mächtiges Blau. Hin und wieder Pfiffe der Murmeltiere
Wir kommen gut voran. Blick nach vorn. Schwindelfreiheit, Trittsicherheit, Kraftreserven. All das wächst mit der Zeit. Inzwischen traue ich mir jene Wege zu, die ich vor Jahren nicht gegangen wäre. Passagen, wo neben dem Pfad der Abgrund gähnt. Die Angst geht immer noch mit, aber als Kameradin, als Freundin.
Den Gletscher queren wir am Rand. Wir schließen die Funktionsjacken bis zum Kinn, setzen Wollmützen auf. Dann auf den Grat, der wie eine schartige Klinge auf den Gipfel zuläuft. Die letzten Schritte. Tiefe Kniebeuge, den kalten Stahl des Gipfelkreuzes sacht berühren mit der Stirn – Sakrament der Höhe.
Das Herz schlägt bis zum Hals. Die Freunde neben mir. Anders als auf unserem ersten Berg: keine Worte, kein Johlen. Es ist wie im Musikvideo zu "Enjoy the Silence" von Depeche Mode. Sänger Dave Gahan ganz für sich mit Krone und Purpurmantel vor einer Skyline von Gipfeln. Königlich, erhaben. Eins mit allem. Mit der Welt, dem unsichtbaren Geheimnis des Lebens. Nur ein leichter Wind, schwebendes Schweigen. Ich bin dein, du bist mein. Himmel über und in mir.
"Alles, wonach ich mich gesehnt habe, liegt hier in meinen Armen. Worte sind völlig überflüssig, sie können nur schaden."
"Viele Wege führen zu Gott – einer geht über die Berge!", schreibt Reinhold Stecher. Für mich ist jedes Wort wahr. Ob auf dem Brisen, den Zillertaler Alpen, dem Wilden Freiger im Stubai – ich erlebe dort: Ich bin gehalten. Die Welt hat eine Ordnung, und ich bin ein Teil davon.
Aber vermutlich wird dieser Satz aus "Botschaft der Berge" nicht ewig gelten. Am Ende aller Zeiten verschwinden die Berge, prophezeit Jesaja in der Bibel: "Was krumm ist, soll gerade werden, und was hüglig ist, werde eben." (Jesaja 40,4 EU) Wann das eintritt, ist offen. Bis dahin kann man das Gipfelglück erleben. In langen Schleifen hinauf, über Eis und Grat, Atem, Klettern und dann Eintauchen in diese berührende Stille. Gipfelglück.
Es gilt das gesprochene Wort.
Musik dieser Sendung:
1. Depeche Mode: Basslinie aus Enjoy the Silence
2. Depeche Mode: Never Let Me Down Again
3. Hubert van Goysern, Gombe: Anreisejodler
4. Hubert van Goysern, Gombe: Anreisejodler
5. Depeche Mode: Personal Jesus
6.bis 8. Depeche Mode: Enjoy the Silence
Literatur dieser Sendung:
1. H.F. Müller, Die Berge der Bibel: Polylogzentrum.at
https://www.polylogzentrum.at/weltprojekt-der-berge/dokumentation/die-namen-der-berge/die-berge-der-bibel/ | abgerufen am 10.06.2025
2. Art. Der wahre Mose - Eine Suche nach der Stecknadel: BR 2 Radiowissen. https://www.br.de/radio/bayern2/sendungen/radiowissen/religion/mose-und-sein-gott-stecknadel100.html | abgerufen am 10.06.2025
3. M. Müller, Tabor. (08.2028): Bibelwissenschaft.de
https://bibelwissenschaft.de/stichwort/32198/ | abgerufen am 08.07.2025
4. W. Oswald, Sinai (09.2018): Bibelwissenschaft.de
https://bibelwissenschaft.de/stichwort/28875/ | abgerufen am 08.07.2025
5. A. Senti, Sarganserländer Alpsegen. Lebendige Traditionen, Juni 2018, 1-3. Oder Senti A., Der Sarganserländer Alpsegen. Sarganserländer Verlag, Mels 1994. Schweizerisches Archiv für Volkskunde, 91 (1). pp. 122-123.
https://www.lebendige-traditionen.ch/tradition/de/home/traditionen/sarganserlaender-alpsegen.html | abgerufen am 08.07.2015
6. P.Roth, Vom Zauberklang der Dinge - Folge 9: Alpsegen: https://www.youtube.com/watch?v=9nDCUqYO7_w | abgerufen am 08.07.2015
7. R. Stecher, Botschaft der Berge, Innsbruck, 16. neugestaltete Aufl. 2014
8. Genauer Drehort zum Video von "Enjoy the Silence" in den Schweizer Alpen: https://www.google.com/maps/place/46%C2%B030'25.2%22N+7%C2%B056'52.8%22E/@46.50809,7.9382979,5465m/data=!3m1!1e3!4m5!3m4!4b1!8m2!3d46.507!4d7.948?entry=ttu&g_ep=EgoyMDI1MDIwNS4xIKXMDSoASAFQAw%3D%3D … Website: https://www.reddit.com/r/Switzerland/comments/vr3n54/help_finding_where_depeche_modes_enjoy_the/?tl=de&rdt=35675